Krieg in der Ukraine:Putins Truppen besetzen Mariupol

Krieg in der Ukraine: Bilder eines Videos, das die Stadtverwaltung von Mariupol am Dienstag veröffentlicht hat, zeigen Rauchwolken über der Stahlfabrik Asowstal in Mariupol.

Bilder eines Videos, das die Stadtverwaltung von Mariupol am Dienstag veröffentlicht hat, zeigen Rauchwolken über der Stahlfabrik Asowstal in Mariupol.

(Foto: Mariupol City Council/AFP)

Nach Angaben des Kreml haben russische Streitkräfte die Hafenmetropole eingenommen. Der Bürgermeister sagt, die Stadt sei noch nicht gefallen. Ein Stahlwerk wird weiter von ukrainischen Soldaten verteidigt.

Von Max Hägler, Lwiw, und Christoph Koopmann

Obwohl sich weiterhin mehr als 2000 ukrainische Soldaten in Mariupol halten, hat Russlands Verteidigungsminister Sergej Schojgu am Donnerstagmorgen die Einnahme der Stadt verkündet. Dies sei "ein Erfolg", sagte Präsident Wladimir Putin bei einem Treffen mit Schojgu. Mariupols Bürgermeister Wadym Boitschenko widersprach: Die Stadt sei zwar besetzt, aber nicht gefallen. Sie werde weiterhin verteidigt. "Die Stadt ist und bleibt ukrainisch", sagte Boitschenko bei einer Pressekonferenz.

Russische Truppen versuchten am Donnerstag weiterhin verstärkt, im Osten und Süden der Ukraine vorzudringen. Aus der Millionenstadt Charkiw und weiteren Orten entlang der Front wurden Artilleriebeschuss und Gefechte gemeldet.

Im strategisch wichtigen Mariupol im Süden des Landes haben sich die letzten ukrainischen Verteidiger in der Stahlfabrik Asowstal am Hafen zum Asowschen Meer verschanzt. Bei ihnen sind laut Bürgermeister Boitschenko auch 300 bis 1000 Zivilisten. Putin sagte eine geplante Erstürmung des Geländes ab, die wohl nur unter schweren eigenen Verlusten möglich gewesen wäre. Er ordnete stattdessen an: "Riegelt dieses Industriegebiet ab, sodass nicht einmal mehr eine Fliege durchkommt."

Angebote Russlands, sich zu ergeben und im Gegenzug durch einen Korridor das Fabrikgelände zu verlassen, haben die eingeschlossenen Ukrainer wiederholt abgelehnt. Man vertraue Russlands Zusage nicht, sie dann am Leben zu lassen. "Wir brauchen eine stabile Waffenruhe, mindestens einen Tag lang", sagte Boitschenko. Das gewähre die russische Seite nicht. Am Mittwoch hatte der Kommandeur der verbliebenen Soldaten in einer Videonachricht die internationale Gemeinschaft gebeten, die Eingeschlossenen zu retten und in einen sicheren Drittstaat zu bringen.

Eine Staatssekretärin des US-Außenministeriums sagte CNN, es sei vorstellbar, dass Nato-Partner an einer möglichen Evakuierung beteiligt würden. Weil Mariupol land- wie seeseitig komplett von russischen Truppen eingeschlossen ist, wäre eine Rettung durch Nato-Kräfte nur mit Erlaubnis des Kreml denkbar - und selbst für diesen Fall gilt es als unwahrscheinlich, dass etwa die USA Helikopter und Schiffe schicken. Eine solche Aktion müsste militärisch abgesichert werden, was ein schwer kalkulierbares Risiko bergen würde. Eine direkte Konfrontation zwischen russischen und Nato-Streitkräften will das Verteidigungsbündnis bislang in jedem Fall vermeiden. US-Präsident Joe Biden äußerte sich bei einem Briefing am Donnerstag nicht dazu, forderte Putin aber auf, Zivilisten aus der Stadt zu lassen. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) nannte die Situation "kaum zu ertragen".

In Mariupol sind nach Angaben des Bürgermeisters noch mehr als 100 000 Zivilisten eingeschlossen. Am Mittwoch hätten lediglich vier Busse mit insgesamt 80 Insassen aus der Stadt abfahren können, obwohl weit mehr Menschen auf Rettung gewartet hätten. Russland halte seine Zusagen für eine sichere Evakuierung nicht ein.

Landesweit sind nach Angaben der Vereinten Nationen (UN) mittlerweile mehr als zwölf Millionen Menschen vor dem Krieg geflohen. 7,7 Millionen, also 17 Prozent der Gesamtbevölkerung, seien innerhalb des Landes geflüchtet, sagte Amin Awad, UN-Krisenkoordinator für die Ukraine, bei einem Pressegespräch in Lviv. Mehr als fünf Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer hätten das Land verlassen. Der Regionalkoordinatorin Osnat Lubrani warnte, dass die Zahl der durch die UN mit Lebensmitteln und Medizin zu versorgenden Ukrainer um "einige Millionen" ansteigen werde. Gerade im Osten des Landes gebe es angesichts der dortigen russischen Offensive zunehmende Sorge vor Versorgungsengpässen. Die Ukraine benötigt nach Angaben von Präsident Wolodimir Selenskij gegenwärtig sieben Milliarden Dollar pro Monat, um die wirtschaftlichen Verluste durch die russische Invasion auszugleichen.

Seit Ende März haben Vertreter der Ukraine und Russlands nicht mehr persönlich miteinander verhandelt. Beide Seiten werfen einander vor, Absprachen gebrochen zu haben. Der ukrainische Präsidentenberater Mychailo Podoljak schrieb nun allerdings auf Twitter, man sei "ohne Bedingungen" bereit für gesonderte Verhandlungen über die Situation in Mariupol, "um unsere Leute zu retten". Irritationen gab es um ein angeblich schriftliches Angebot der russischen Seite zur Beendigung des Krieges, das Moskau bereits am vergangenen Freitag übermittelt haben will. Der ukrainische Präsident Selenskij sagte, ihm liege nichts dergleichen vor.

US-Verteidigungsminister Lloyd Austin will in der kommenden Woche auf dem US-Luftwaffenstützpunkt Ramstein in Rheinland-Pfalz mit Kollegen aus mehreren Ländern zum Krieg in der Ukraine beraten. Das Treffen solle am kommenden Dienstag stattfinden, kündigte Pentagon-Sprecher John Kirby am Donnerstag an. Kirby nannte keine Details zur Teilnehmerliste. Es würden aber nicht nur Nato-Staaten eingeladen, sagte er. Ein Ziel des Treffens sei die dauerhafte Sicherheit und Souveränität der Ukraine. Es solle daher um den Verteidigungsbedarf der Ukraine über den aktuellen Krieg hinaus gehen. "Wir denken, dass es an der Zeit ist, auch diese Diskussion zu führen", sagte Kirby.

Nach seinem langen Bitten um Lieferungen schwerer Waffen aus dem Westen äußerte Selenskij Hoffnung, die Dringlichkeit klargemacht zu haben. US-Präsident Biden sagte am Donnerstag, Washington werde weitere schwere Artillerie, Drohnen und anderes Gerät im Wert von 800 Millionen US-Dollar liefern. Er kündigte zudem an, die Häfen im Land für russische Schiffe zu sperren. Deutschland beteiligt sich an der Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine nun zumindest über einen Ringtausch, wie am Donnerstag bekannt wurde: Slowenien liefert einige T-72-Panzer aus seinem Bestand, die es dann durch deutsche Schützenpanzer der Typen Marder und Fuchs ersetzen soll.

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