In einer Novembernacht des Jahres 1976 erschüttert eine Explosion das Haus im 15. Arrondissement von Paris, in dem die Familie Le Pen lebt. Die acht Jahre alte Marine schreckt aus dem Schlaf. Sie spürt eine unheimliche Kälte und Stille um sich. Das Zimmer ist mit Glasscherben übersät. Sie glaubt an ein Erdbeben. Dann hört sie die Stimme des Vaters, der nach Marine und deren Schwestern schreit: "Seid ihr am Leben?" Bald erfährt das kleine Mädchen, dass das Erdbeben ein Anschlag war, der seinem Vater galt. "So trete ich in die Politik ein, in ihrer gewalttätigsten, grausamsten und brutalsten Form", wird sie in ihrer Autobiografie schreiben.
Später erlebt Marine den Vater wieder als Opfer. Zum Beispiel, als ihn die Mutter verlässt. Vor allem aber, wenn ihn die politischen Gegner und die Medien attackieren. Auch sie selbst verspürt als Schülerin und Studentin eine "ständige Feindseligkeit", weil sie die Tochter Jean-Marie Le Pens ist, des Gründers der rechtsextremen Partei Front National. Das macht sie wütend - und schweißt sie mit dem Vater zusammen. Sie will ihn verteidigen, sucht Revanche an einer als feindselig wahrgenommenen Außenwelt.
Viele Jahre später, an diesem Dienstagabend, steht Marine Le Pen auf der Rednerbühne des Zenith, einer Pariser Konzerthalle. 7000 Menschen feiern sie enthusiastisch. "Marine, Marine", schreien sie und schwenken ihre Trikoloren. Auch ihr inzwischen 83 Jahre alter Vater ist gekommen. Marine weiß ihn um sich. Ein Lächeln gleitet über das volle Gesicht mit den schweren, ein wenig müden Zügen der zweimal geschiedenen Mutter dreier Kinder. 43 Jahre ist sie nun alt und führt ihre Partei als Vorsitzende und Präsidentschaftskandidatin. Sie steht jetzt da, wo bisher stets der Vater stand: an vorderster Front.
Sie beginnt zu sprechen und fasziniert die Menge sofort. Die Menschen buhen, wenn sie ihre Gegner vom konservativen Präsidenten Nicolas Sarkozy bis zum linksradikalen Kandidaten Jean-Luc Mélenchon vorführt; und sie johlen, wenn sie alle ihre Gegner als korrupte Systemlinge abtut und ruft: "Ich bin die einzige Kandidatin der Nation. Ich bin die Stimme des Volkes."
Sarkozy bescheinigt sie eine "albtraumhafte" Bilanz
Das Weltbild, das die Front-Frau nun ausbreitet, ist furchtbar simpel, wird aber mit demagogischem Geschick verkauft. Hier stehen die Guten, die französischen Patrioten, "ein verletztes, aber ein mutiges Volk, ein würdiges Volk, ein großes Volk". Es wird bedroht von den Bösen, den "Profiteuren, Betrügern, Finanzhaien, dummen Technokraten, gierigen Ehrgeizlingen" und Politikern wie Sarkozy, die das Land dem "ultraliberalen globalen Finanzkapitalismus" opferten. Marine Le Pen droht: "Wir werden kämpfen." Die "System-Aristokraten" sollten sich darauf einstellen, dass nun das Volk an ihrem Tisch Platz nehme.
Als Hauptfeind hat die Kandidatin die EU ausgemacht, die den Franzosen ihre nationale Souveränität raube und ihnen eine ruinöse Sparpolitik aufzwinge. Aber auch Sarkozy habe eine "albtraumhafte" Bilanz vorzuweisen. Der Präsident habe nichts gegen eine Masseneinwanderung getan, die dazu führe, dass sich die Franzosen "wie Fremde im eigenen Haus" fühlten. So werde das Volk geschwächt, um es unterjochen und ausbeuten zu können.
Es ist eine Melange aus nationalistischen Ressentiments und populistischer Globalisierungskritik, die Marine Le Pen anrührt. Damit erweitert sie die Rezeptur des Vaters. Zu dessen Zeiten servierte der Front ein schwarzbraunes Gebräu aus Frankreich-zuerst, Fremdenfeindlichkeit, Law-and-Order-Parolen, Kolonial-Nostalgie und etwas Relativierung der Nazi-Verbrechen. Wirtschaftspolitisch gab er sich liberal und unternehmerfreundlich.
Mit diesem Angebot zog der alte Le Pen 2002 in die Stichwahl um die Präsidentschaft ein und bekam 17,8 Prozent der Stimmen. Seine Tochter löste ihn vor gut einem Jahr als Parteichefin ab, um noch erfolgreicher zu werden.
Marine Le Pen machte es sich zur Aufgabe, den Front zu "entdiabolisieren". Sie strich Kolonial-Schwärmereien und Antisemitismus aus dem Programm, gab sich in Abtreibungsfragen liberaler als ihr Vater und offerierte den Franzosen das Bild einer modernen, berufstätigen Frau und alleinerziehenden Mutter, die sich modisch zu kleiden versteht, witzig und schlagfertig agiert und einen robusten Charme entfalten kann.
Vor allem aber brachte sie den Front auf kapitalismuskritischen Kurs. Sie will den Euro abschaffen, neue Zölle auf importierte Waren einführen, die Industrie protektionistisch schützen, angeschlagene Banken zumindest zeitweise verstaatlichen, Niedriglöhne kräftig anheben und die Reichen höher besteuern. Viele ihrer wirtschafts- und sozialpolitischen Vorschläge könnten auch vom linksradikalen Mélenchon stammen.
Marine Le Pen sagt am Dienstagabend im Zenith: "Es gibt keine Rechte oder Linke mehr, sondern nur noch ein französisches Volk." Bei den alten Kadern kommt diese ideologische Ausweitung des Front National nicht gut an. Sie werfen der jungen, blonden Frau vor, das Profil der Partei zu verwässern. Manche nennen sie bereits "rote Marine". Auch Vater Jean-Marie runzelt manchmal die Stirn. Die Tochter bleibt jedoch bei ihrem Kurs. Ihr Kalkül: Wenn die Wirtschafts- und Finanzkrisen fortdauern, kann ihr Front zu einer Massenpartei wachsen. Dann will sie all jene Verarmten und Verbitterten aufsammeln, die früher die Kommunisten gewählt hätten.
Mitarbeiter prophezeien eine "göttliche Überraschung"
Noch bleibt offen, ob Marine Le Pen mit dieser Strategie reüssiert und ob damit die Kritiker verstummen und der Vater überzeugt wird. Vergangenes Jahr prognostizierten ihr die Meinungsforscher teilweise Platz eins im ersten Wahlgang mit bis zu 24 Prozent der Stimmen. Derzeit platzieren sie die Umfragen mit 14 bis 17 Prozent an dritter Stelle. Ihre Mitarbeiter prophezeien jedoch eine "göttliche Überraschung" in den Wahlurnen am Sonntag. Sie glauben, viele Bürger trauten sich nur nicht, sich in der Öffentlichkeit zu Le Pen zu bekennen.
Auffallend ist, dass Marine Le Pen besonders gut bei jungen Franzosen ankommt. Viele von ihnen sehen kaum eine Chance auf dem Arbeitsmarkt. Sie empfinden sich als Verlierer der Globalisierung und fühlen sich von etablierten Politikern wie Präsident Sarkozy verraten. Vor allem Junge mit schlechter Ausbildung ließen sich von den Attacken Le Pens gegen das "System" und die "Eliten" verführen, sagt der Extremismusforscher Sylvain Crépon. Sie schätzten Le Pens Wirtschaftsnationalismus. "In der Krise, wo es keine Arbeit gibt, finden sie es normal, die Franzosen zu bevorzugen." Die Kandidatin sagt denn auch: "Ich verteidige nicht die Arbeiter der ganzen Welt, sondern die französischen Arbeiter."
Sie weiß natürlich, dass sie bei dieser Wahl nicht Präsidentin wird. Doch sie sieht sich erst am Anfang ihrer Karriere. "Ihr werdet mich noch 40 Jahre auf der Pelle haben", sagte sie unlängst zu Journalisten. 40 Jahre - dann wäre sie so alt wie ihr Vater heute.