Margarete Mitscherlich im Interview:"Ohne Angst würden wir fett"

Margarete Mitscherlich

Margarete Mitscherlich im Jahre 2009.

(Foto: dpa)

Margarete Mitscherlich war die Grande Dame der Psychoanalyse, Vorkämpferin des Feminismus und Analytikerin der NS-Zeit und der Gegenwart. 2009 hat sie der SZ dieses lange, sehr persönliche Interview gegeben.

Von Lena Prieger und Oliver Das Gupta

Margarete Mitscherlich-Nielsen wurde 1917 als Tochter einer Deutschen und eines Dänen geboren. Kurz vor ihrem 95. Geburtstag ist sie nun gestorben. Sie studierte in München, Heidelberg und Großbritannien und war als Ärztin und Psychoanalytikerin wissenschaftliches Mitglied des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt und verschiedener Arbeitskreise. Gemeinsam mit ihrem 1982 verstorbenen Mann Alexander Mitscherlich veröffentlichte sie 1967 das Buch "Die Unfähigkeit zu trauern". Die Weigerung der Deutschen, ihre nationalsozialistische Vergangenheit wahrzunehmen und zu verarbeiten, wurde von den beiden Medizinern als kollektives Verhalten diagnostiziert. 2009 gab sie in ihrer Wohnung im Frankfurter Westend der Süddeutschen Zeitung ein Interview.

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Margarete Mitscherlich 2009 in ihrer Wohnung.

(Foto: Fotos: Lena Prieger und Oliver Das Gupta)

SZ: Frau Mitscherlich, Sie und Ihr Mann Alexander haben das Buch "Die Unfähigkeit zu trauern" geschrieben - das berühmte Werk, das sich mit der Schwierigkeit der Deutschen beschäftigt, nach dem Krieg die NS-Zeit aufzuarbeiten. Sie sind Jahrgang 1917 und gehören somit zur betroffenen Generation. Haben Sie selbst getrauert?

Margarete Mitscherlich: Ach, wissen Sie, ich war oft sehr traurig, dass mir meine Ideale geraubt wurden. Ich wollte zu einer Gemeinschaft, zu einer Nation gehören, die ein achtenswertes Dasein führt. Stattdessen hat sich ein Abgrund von Grausamkeit aufgetan, der vorher unvorstellbar war. Meine Generation - mich inbegriffen - hat etwas sehr Wertvolles verloren. Wir haben Grund zu trauern, solange wir noch auf dieser Erde sind, auch um die ungezählten Menschen, die einer irrsinnigen Ideologie geopfert wurden.

SZ: Wie sah die Deutschlandliebe der jungen Margarete aus?

Mitscherlich: Ich war eine begeisterte Deutsche, ich liebte die deutsche Literatur. Mit zwölf Jahren habe ich behauptet, ich hätte sämtliche Dramen Schillers gelesen - und verstanden! Meine Geschwister haben mich ausgelacht. Ich war doch sehr deutsch (lacht). Wenn die Nationalhymne gespielt wurde, liefen mir die Tränen runter: "Deutschland, Deutschland, über alles ..."

SZ: Bei der Machtergreifung Hitlers waren sie 15 Jahre alt. Bröckelte von da an Ihr Bild vom wunderbaren Heimatland?

Mitscherlich: Ja, das begann mit der NS-Zeit. Wie meine Freunde und meine Mutter habe ich während des Krieges immer BBC gehört. Da verging einem bald der Stolz auf das eigene Volk, trotz der Dichter, Denker und tollen Philosophen. Über vieles Üble, auch über Mordtaten wie die Vergasung der Geisteskranken, wussten wir durchaus Bescheid.

Aber trotz allem: Man hatte die Sprache, man war so erzogen, das Deutschsein war tief in einem drin. Man war - ob man will oder nicht - beteiligt, man war manchmal opportunistisch, sterben wollte man ja nicht. Darum hat man sich in gefährlichen Situationen angepasst. Und danach verachtete man sich dafür. Ja, getrauert habe ich immer.

SZ: Diesen Prozess haben Ihr Mann und Sie bei den meisten Deutschen in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik vermisst und eingefordert: Der Blick zurück auf das Grauen, die Erinnerungsarbeit. Fühlten Sie sich auch schuldig, Frau Mitscherlich?

Mitscherlich: Nein, ich hatte nicht das Gefühl, Schuld zu haben. Wie es wirklich zuging in den KZ und vor allem in den Vernichtungslagern, dieses Ausmaß an Unmenschlichkeit hat sich niemand vorstellen können. Das war auch nie gesagt worden in der BBC während des Krieges. Ich meine, warum haben die Alliierten zum Teufel nicht die Bahnlinien in die KZ bombardiert? Es gibt so vieles, was man nachträglich nicht versteht.

SZ: Warum hat der Großteil der Deutschen in den Nachkriegsjahrzehnten nicht zurücksehen wollen?

Mitscherlich: Man stand einer Schuld gegenüber, die nicht zu verarbeiten war, nach der totalen materiellen und ideellen Zerstörung. Und das hat auch zu diesem Verdrängen geführt. Der Erste Weltkrieg war ja auch schon absurd und schrecklich genug gewesen. Aber die Schoah schien nicht verkraftbar zu sein.

"Jeder wusste, dass Juden in Massen erschossen wurden"

SZ: Seit 1949, dem Jahr, als die Bundesrepublik und die DDR gegründet wurden, leben Sie dauerhaft in Deutschland. Damals bekamen Sie einen Sohn von Alexander Mitscherlich, der zu jener Zeit noch mit einer anderen Frau verheiratet war. War es in den ersten Jahren dieser Republik schwer, allein ein uneheliches Kind großzuziehen?

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(Foto: Foto: lp/odg)

Mitscherlich: Ich habe damals zuerst in Stuttgart, dann in Heidelberg mit Psychoanalyse und Psychotherapie zu arbeiten begonnen. Meinen Sohn habe ich nach einiger Zeit zu meiner Mutter nach Dänemark gebracht. Dort blieb er die ersten Jahre meistens, besuchte mich aber auch oder ich ihn. Ich habe meinen Sohn nie verborgen - im Gegenteil. In Dänemark war man ja weitgehend tolerant, und in Deutschland war es mir furchtbar wurscht, was man von mir hielt.

SZ: In Heidelberg hatten Sie ja schon während des Krieges studiert und waren unter anderem auch von der Gestapo verhört worden - weil Sie über die Nazis gelästert hatten. Wie war es, 1949 zurückzukommen?

Mitscherlich: 1944 war ich dort weggegangen, nach der Währungsreform kam ich zurück. Es war amüsant. In der etablierten Universität Heidelberg bestand die gleiche Hierarchie weiter, als sei nichts passiert. Die Herren hatten ja keine Ahnung, wie sehr sie verachtet wurden im Ausland. Sie hingen dem Glauben an: "Der Krieg ist vorbei, wir haben gehungert, aber jetzt brauchen uns ja die Amerikaner gegen die Russen." Eine naive Stimmung sondergleichen. Als Westdeutschland 1949 eine Verfassung bekam, konnten die Deutschen wieder reisen. Da haben sie erst gemerkt, wie es zuging, wenn man als Deutscher ins Ausland kam. Da waren sie empört, das hatten sie nicht erwartet.

SZ: Die Psychoanalyse war verfemt unter den Nazis - sie galt als "jüdische" Wissenschaft. Wie haben die Professoren, die schon während des Dritten Reiches auf ihren Lehrstühlen saßen, reagiert, als Menschen wie Alexander Mitscherlich und Sie mit der Psychoanalyse anfingen?

Mitscherlich: Man lehnte sie in den ersten Jahren ab. Das damals gängige Vorurteil über die Psychoanalyse war schon vor den Nazis, in den zwanziger Jahren, gefällt worden. Es lautete: Das ist keine Wissenschaft, es ist nicht zu beweisen, alles Phantasien. Also nicht nur, weil Sigmund Freud Jude war. Das wagte niemand zu sagen: Er ist Jude, deswegen wollen wir ihn nicht, das traute man sich anno 1950 nicht mehr, das hatten sie kapiert. Sie waren ja nicht ganz blöd. Aber was Alexander Mitscherlich in den Augen vieler zum Verräter machte, das war seine Teilnahme am Nürnberger Ärzteprozess (Anm. d. Red.: Mitscherlich dokumentierte die Verfahren gegen die NS-Mediziner 1946/47).

SZ: Haben Sie diese Anfeindungen auch noch in den fünfziger und sechziger Jahren zu spüren bekommen?

Mitscherlich: Natürlich! Alexander war zeitweise der bestgehasste Mann in der Medizin überhaupt. "Das ist ein Nestbeschmutzer", hieß es da: "Stimmt doch alles gar nicht, was der geschrieben hat." Darum bekam er ja zunächst auch keine Professur. Erst mit Hilfe von Max Horkheimer und Theodor Adorno in Frankfurt. Und das war nicht an der medizinischen Fakultät, sondern an der philosophischen.

SZ: Und dann haben Sie beide gemeinsam "Die Unfähigkeit zu trauern" veröffentlicht. Können Sie die Stimmung in den fünfziger Jahren beschreiben, die Sie und Ihren Mann dazu brachte, dieses Buch zu schreiben?

Mitscherlich: Die Leute sagten: "War da was? Da war doch nichts! Der Krieg ist vorbei, wir haben ihn verloren, das ist Jammer. Aber nun sind wir uns mit den Amerikanern ganz einig, wir stehen auf der richtigen Seite des Kalten Krieges. Und, ach die Nazis, ach ja, das war ein Irrtum, hatte ja aber auch manches Gute, Sie kennen ja die schönen Autobahnen."

SZ: Das war die Strategie des großen Verdrängens.

Mitscherlich: Man wollte sich absolut nicht damit beschäftigen, weder in den Schulen, noch in den Familien. Eins muss ich noch mal betonen: Es mag während der NS-Zeit in Deutschland den meisten nicht klar gewesen sein, wie systematisch in den Konzentrationslagern gemordet wurde - aber zumindest war bekannt, was im Osten passierte, die Tötungen von russischen Zivilisten, von sowjetischen Kommissaren und angeblichen Partisanen.

Das erzählten die Soldaten, die auf Urlaub waren. Jeder Deutsche wusste während dieser Zeit, dass die Juden in Massen erschossen werden. Männer, Frauen, Alte und Kinder. Es wurde massiv verdrängt. Und dass das nicht gut sein konnte, das merkte man ja in den Psychoanalyse-Sitzungen nach dem Krieg. Wenn überhaupt so jemand sich auf unsere Couch legte, dann hörte er schnell auf zu erzählen - denn damit wollte er nichts zu tun haben.

SZ: Heißt das, dass Sie auch Mörder behandelt haben?

Mitscherlich: Ich hatte nur Leute, die sagten: 'Ich habe gehört von dem und dem, dass er an solchen Sachen teilgenommen hat.' Dann gab es natürlich auch genügend Leute, die, wenn sie gekonnt hätten, noch immer für die Nazis gewesen wären. Aber das wagte natürlich in universitären und gebildeten Kreisen niemand offen zu äußern.

SZ: Half das deutsche Wirtschaftswunder bei der Verdrängung der NS-Zeit?

Mitscherlich: Selbstverständlich trug es dazu bei. Das Motto war: 'Wir sind wieder wer! Dank unserer Wirtschaftsmacht und gemeinsam mit den Amerikanern werden wir den Kommunismus besiegen. Hauptsache wir gedeihen.' In so einem Klima vergaß man schnell und gerne das, was in Auschwitz und anderswo passierte.

"Adenauer war kein Nazi - und auch kein lupenreiner Demokrat"

SZ: Richard von Weizsäcker erinnerte sich in einem SZ-Interview an eine "Autoritätsglocke", die über der Republik während der Adenauer-Zeit lag.

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"Was für eine ungeheuer bedeutungsvolle Geste!"- Bundeskanzler Willy Brandt kniet 1970 vor dem Ehrenmal für die jüdischen Toten des Warschauer Gettos.

(Foto: Foto: dpa)

Mitscherlich: Um genau zu sein: Es war die Glocke der Kleinbürger und Spießer. Denn eines hatte Hitler geschafft: Ein Volk mit Standesdünkel - Adel, Beamtentum, der Offiziersstand - wurde zu einer fast klassenlosen Gesellschaft. Schließlich hatten sich während der NS-Zeit alle Klassen gleichermaßen blamiert und versagt. Die alten Traditionen waren alle kaputt, darum war die spießbürgerliche Linie in der Bundesrepublik zu Beginn obenauf. Die dumpfe, sexualfeindliche Moral der Kirche wurde übernommen.

SZ: Können Sie das genauer beschreiben?

Mitscherlich: Außereheliche Sexualität war verpönt, Schwule wurden verfolgt, Abtreibung war strafbar. Es gab den berüchtigten "Kuppelparagraphen". Stellen Sie sich vor: Man durfte nicht mal zusammenwohnen, wenn man nicht verheiratet war! Diejenigen, die verwurzelt waren im rheinischen Katholizismus der Bonner Republik, haben hinter vorgehaltener Hand auch Willy Brandt verschmäht, schließlich war er nicht nur als Nazi-Gegner emigriert, sondern auch ein uneheliches Kind. Damals galt eben: "Gefallen ist gefallen." Adenauer provozierte Brandt, in dem er ihn "Willy Brandt alias Herbert Frahm" nannte.

SZ: Welche Faktoren waren für Sie entscheidend, dass Deutschland aus dieser konformistischen, muffigen Phase aufbrechen konnte?

Mitscherlich: Ich denke, wichtig war, dass die Deutschen immer mehr ins Ausland reisten. Dort wurden sie mit den Dingen konfrontiert, die sie in ihrer kleinbürgerlichen vermeintlich heilen Welt nicht sehen wollten - vor allem mit den Verbrechen von Nazi-Deutschland. Mit Deutschland wurde der Name Hitler und der Begriff Auschwitz verbunden. Die freie Presse war natürlich auch ein Faktor, dann kam die Entdeckung der Pille dazu - endlich löste sich diese hässliche Spießer-Moral.

SZ: Ein Jahr nach Adenauers Tod kamen die 68er. Wie haben Sie die Studentenbewegung erlebt?

Mitscherlich: Wir waren sehr zufrieden, als die Studenten kamen und sagten: "Wir können doch nicht weiter so tun, als wäre da nichts gewesen." Nur bei den Studenten ist mir sehr schnell auf die Nerven gefallen, wie sie darauf pochten, dass alle so denken mussten wie sie - auch ich. Das war wieder eine Ideologie, und es war intolerant.

Die 68er waren ja zum Teil durchaus auch - ich würde nicht sagen stalinistisch - aber schon sehr kommunistisch begeistert. Ich war ja auch immer eher links gesonnen. Aber jede Diktatur, jede Gewalt, das war etwas, was mir physisch unerträglich war. Und manche 68er übten auch in ihrem Denken eine gewisse Gewalttätigkeit aus. (laut) Und da kann man mich mit jagen!

SZ: Lagen denn auch einige der 68er auf Ihrer Couch?

Mitscherlich: Ja, ich habe sogar hier und da Studentenführer analysiert. Und ich denke gerade an eine bestimmte Person - das war einer der begabtesten Leute. Er war fähig, sich auch selbst in Frage zu stellen. Aber der hatte ebenso diese Periode der Intoleranz gehabt.

SZ: Und er hat sich wahrscheinlich inzwischen verändert?

Mitscherlich: Ich darf nicht sagen, wer es ist, aber er ist ein ideenreicher, bekannter Mann geworden. Das war damals schon absehbar.

SZ: Die 68er begehrten gegen eine Gesellschaft auf, die von Konrad Adenauer geprägt worden war. Die junge Republik hatte einen ersten Kanzler, der bis in die sechziger Jahre äußerst autoritär schaltete und waltete - trotzdem erinnert man sich heute vor allem an seine positiven Seiten.

Mitscherlich: Adenauer war kein Nazi - ein lupenreiner Demokrat war er natürlich auch nicht (lacht). Die Deutschen wollten ihn trotzdem. Das lag wohl daran, dass Deutschland nicht nur die verspätete Nation war, sondern auch die verspätete Demokratie. Vergleichen Sie uns mal mit den Engländern, die schon im 17. Jahrhundert ihren König geköpft haben! Deutschland musste also Demokratie lernen, und das tat es langsam.

SZ: Willy Brandt hat die von Ihnen geforderte Erinnerungsarbeit auf seine Weise forciert. Sein Kniefall von Warschau war ein Bild von Trauer.

Mitscherlich: Ja, absolut! Was für ein Moment, was für eine ungeheuer bedeutungsvolle Geste! Willy Brandt war ein eigenartiger Typ mit einer unglaublichen Begabung, im richtigen Moment das Richtige zu tun. Ausgerechnet er, der vor den Nazis geflüchtet war, der nicht mitgemacht hatte, sondern gegen sie aus dem Untergrund agiert hatte, war der erste Kanzler, der Verantwortung gezeigt hat.

SZ: Sie haben Brandt persönlich kennengelernt. Welchen Eindruck hat er auf Sie gemacht?

Mitscherlich: Wissen Sie, er war mal mein Tischherr und er hatte wesentlich mehr Charme, als Sie denken. Brandt war gerade Kanzler geworden und der Spiegel-Chef Rudolf Augstein hatte uns eingeladen, um das im kleinen Kreise zu feiern. Mich hatte man neben ihn gesetzt. Die Art wie er Witze erzählt hat, war wirklich gekonnt.

"Es ist wunderbar, dass eine Frau Kanzlerin ist"

SZ: Sie sprechen von Brandts Charme - hat er auch als Mann auf Sie Eindruck gemacht?

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(Foto: Foto: lp/odg)

Mitscherlich: Er war ein sympathischer Mensch - aber ich wollte nicht mit ihm verheiratet sein. Er war jemand, der genutzt hat, im besten politischen Sinne, dass er bei Nazi-Deutschland nicht mitgemacht hat. Er wirkte auf mich auch immer etwas einsam. Diese Einsamkeit hat er dann wohl auch durch Damenbekanntschaften zu

SZ: Brandt trat 1974 zurück, die Guillaume-Affäre war der Anlass, aber der Kanzler galt schon zuvor als deprimiert und amtsmüde.

Mitscherlich: Ich habe ihn nie für sehr tüchtig gehalten was die praktische Durchsetzungskraft betraf. Politisch gegen andere sehr scharf zu argumentieren, war nicht seine Sache. Brandt war stark und schwach zugleich. Und vielleicht nicht genügend gewieft, um mit den Typen um ihn herum fertig zu werden.

SZ: Diese Fähigkeit zum Energischsein hatte dann ja Helmut Schmidt.

Mitscherlich: Stimmt, das ist ja ein ganz anderer Typ. Anders als Brandt war Schmidt schließlich auch kein einsames, uneheliches Kind, das später viele Jahre in der Immigration leben musste. Brandt war ein zartes Wesen, eine zarte Seele, die man besser in Watte gepackt hätte, was auch Guillaume, der ihn wohl sehr mochte, lieber getan hätte.

SZ: Wie ist das mit Angela Merkel: Ist ihr Politikstil typisch weiblich oder hat sie die Männer kopiert?

Mitscherlich: Das ist nicht einfach. Was vor 100 Jahren als typisch männlich galt, sehen wir heute nicht mehr unbedingt als unweiblich - und umgekehrt. Sie ist nüchtern und intelligent.

Sie ist Pastorentocher, sie lebte lange in der DDR - beides hat sie geprägt. Sie hat einen kleinen Kreis an Vertrauten um sich geschart, sie schafft es, ihre internen Konkurrenten auf Distanz zu halten - Roland Koch ist ja auch nicht gerade der einfühlsamste Mensch, der herumläuft. Ich habe mich übrigens sehr gefreut, als wir eine Kanzlerin bekommen haben und finde das nach wie vor toll! Sie macht gute Politik, wenn auch etwas zögerlich.

SZ: Finden Sie alles gut an Frau Merkel?

Mitscherlich: Nun ja, sie habe George W. Bush zu sehr hofiert, heißt es. Wie kann man nur? Ich möchte gerne, dass Merkel alles richtig macht! Ich erlaube mir, ganz entschieden parteiisch zu sein. Es ist wunderbar, dass eine Frau zum ersten Mal Kanzlerin geworden ist! (lacht)

SZ: Im 60. Jahr dieser Republik schwelt die schwerste Wirtschaftskrise. Die Zeitungen sind voll davon, es geht um Abwrackprämie, die Rettung von Banken und von Opel. Doch die Deutschen scheinen sich noch nicht krisenhaft zu verhalten.

Mitscherlich: Ich bin auch verblüfft. Man muss den Menschen von Herzen danken. Viele verlieren ihre Jobs, doch sie kämpfen - sie bleiben realistisch! Panik wäre sicherlich das Schlimmste, was sich derzeit entwickeln könnte, das wäre eine Katastrophe. Die Politik sollte sich davor hüten, Unruhe herbeizureden, wie es unserer leider nicht nächsten Präsidentin nachgesagt wird.

SZ: Sie sprechen von Gesine Schwan, der Bundespräsidentenkandidatin der SPD. Schwan warnte vor sozialen Unruhen, sollte es zu Massenarbeitslosigkeit und Armut kommen. Hat sie mit diesem Szenario denn Unrecht?

Mitscherlich: Das wissen wir doch alle, dass diese Gefahr besteht. Wissen Sie, 1929 wirkte sich der Crash in Amerika schlimmer als in Deutschland aus. Aber die Konsequenzen waren hierzulande viel verheerender: Wir haben Hitler gekriegt. Panik führt nun mal zu Extremen, zum Auseinanderbrechen der demokratischen Gesellschaft, vor allem, wenn sie so jung und fragil ist, wie sie damals war und hoffentlich nicht mehr ist.

"Eine verweiblichte Männerwelt ist existenziell für die Zukunft"

SZ: Die Angst vor der heutigen Krise wird man den Menschen nicht nehmen können.

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(Foto: Foto: lp/odg)

Mitscherlich: Das verlangt ja auch keiner. Durch Angst kann man ja auch etwas klüger werden. Ein bisschen Angst brauchen wir, um voranzukommen. Ohne sie würden wir dick und fett und gingen unter.

SZ: Und wie kann man der Angst vor der Krise begegnen?

Mitscherlich: Indem man intensiver überlegt, was man dagegen tun kann. Wo haben wir etwas übersehen? Warum ist dies und jenes passiert? Nun sind wir bei der "Unfähigkeit zu trauern", nämlich Erinnerungsarbeit. Was ist eigentlich gewesen? Wir waren ja faul, wir haben ganz offensichtlich Dinge übersehen. Wir haben nur noch Profit gewollt und uns nicht mehr dafür interessiert, wo das Geld herkam. Wir haben darauf gesetzt, dass Menschen Geld geliehen wird, die es nicht zurückzahlen konnten.

SZ: Was Sie umschreiben ist Gier, die Gier nach mehr Geld.

Mitscherlich: Wissen Sie, das ist etwas, was ich nicht nachvollziehen kann. Ich habe zu Geld wenig Beziehung. Die Lust, mehr Geld zu haben, als ich benötige, um das kaufen zu können, was ich brauche und liebe, diese Lust ist bei mir gleich null. Was soll das viele Geld, was nur herumliegt, was soll der Quatsch?

SZ: Sie haben selbst einmal eine Reihe typisch männlicher Eigenschaften formuliert. Dazu zählten Sie Härte, Durchsetzungskraft, Gefühllosigkeit, Risikofreudigkeit. Diese passen gut zu dem Bild eines erfolgreichen Bankmanagers. Ist diese Krise männlich?

Mitscherlich: Das sind nur Eigenschaften, die wir traditionell unter typisch männlich verstehen. Zugespitzt hat das Hitler mit der Parole: "Flink wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl." Wir müssten unser Verständnis ändern, und diese Attribute nicht mehr als positiv darstellen. Natürlich ist manchmal eine gewisse Härte angebracht - aber doch nicht, wenn es auf Kosten der Humanitas geht. Männer sollten lernen, auch Eigenschaften zu leben, die man in der Geschichte als typisch weiblich angesehen hat.

SZ: Von welchen Eigenschaften sprechen Sie?

Mitscherlich: Ich möchte mir wünschen: Humor. Meinetwegen auch Trauerfähigkeit in dem Sinne, dass man die Verletzungen wahrnimmt, die man anderen zugefügt hat. Männer müssen vor allem erkennen, dass sie Menschen sind. Dann werden sie auch andere eher als gleichwertig ansehen. Empathie ist auch bei Männern eine Tugend.

Die in diesem Sinne "Verweiblichung" der Männerwelt ist existenziell für unsere gemeinsame Zukunft. Wer Schwächere nicht achtet, wer ihnen nicht zu helfen versucht, sondern bekämpft, merkt gar nicht, dass er damit ein Klima schafft, in dem auch er umkommen wird.

SZ: In der Welt der Manager, im Finanzsektor, sind die "harten" Männer bislang fast unter sich. Wäre diese Krise nicht entstanden oder anders gekommen, wenn mehr Frauen in verantwortlichen Positionen wären?

Mitscherlich: Das kann man nur durch Erfahrung herausfinden. Dann lassen Sie uns mal sagen: "Männer, jetzt lasst uns mal ran!" (lacht) Im Ernst: Wer von den Frauen hätte schon Lust, das ganz alleine zu machen? Und diejenigen, die Lust auf solche Jobs haben, sind selten geeignet. Aber wer weiß: Das mag sich alles ändern, wenn uns die entsprechende Erfahrung zur Verfügung steht.

SZ: Das hört sich nun gar nicht so typisch feministisch an.

Mitscherlich: Nun hören Sie mal: Welche Frau will allen Ernstes alle Männer wegdrängen, um dann alles, was Männer bislang tun, selber tun zu müssen? (lacht) Das haben sie schon zur Genüge vor und während des Krieges und danach erlebt, ohne dafür besondere Anerkennung zu bekommen.

SZ: Sie wünschen also den Männern mehr von den als weiblich betrachteten "weichen" Werten. Nur: Kommt man mit diesen Eigenschaften überhaupt voran?

Mitscherlich: Zumindest gibt es in unserem Staat die Voraussetzungen dazu. Da muss man zurückgreifen auf unser Grundgesetz. Darin sind die Werte enthalten, die uns das ermöglichen: Die Achtung der Menschenwürde, Gleichheit von Mann und Frau, die Glaubensfreiheit, die Pluralität.

SZ: Beigetragen zur Emanzipation der Frauen haben auch Feministinnen wie Sie und Ihre Freundin Alice Schwarzer, deren aktuelle Emma-Ausgabe hier in Ihrer Wohnung liegt. Kürzlich machte Schwarzer Werbung für die Bild-Zeitung.

Mitscherlich: Das war ja nicht so klug. Dafür hat Alice ja auch ein bisschen auf den Deckel bekommen.

SZ: Auch von Ihnen?

Mitscherlich: Wissen Sie, Alice ist für mich mehr als eine Freundin. Kritik werde ich bei ihr persönlich und nicht vor Publikum los. Sie hat ihren bisherigen, manchmal sehr schwierigen Lebensweg mit großem Mut beschritten, das ist bewundernswert. Sie darf auch manchmal Fehler begehen.

"Dummheit und Stolz wachsen auf einem Holz"

SZ: Frau Mitscherlich, auch Sie waren in den vergangenen Jahrzehnten für manche eine Reizfigur. Zum Beispiel, als Sie in der Hochphase des RAF-Terrors danach fragten, welche Motive die Terroristen antrieben.

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(Foto: Foto: lp/odg)

Mitscherlich: Ja, damit musste man sich doch beschäftigen! Damals stellte mich die Frankfurter Allgemeine als RAF-Sympathisantin hin. Was für ein Unfug! Es gab noch einen anderen Aufreger, da bekam ich Drohanrufe, Tag und Nacht.

SZ: Was war passiert?

Mitscherlich: In einer Talk-Sendung vor etwa 20 Jahren zum Thema Geburtenrückgang wurde gefragt: "Was machen wir, damit die Deutschen nicht aussterben?" Ich meinte zuerst: "Das passiert sicherlich nicht, da kommen Menschen von außen, Völkerwanderungen hat es immer gegeben." Und setzte hinzu: "Und wenn es doch so käme, nach all den Dingen, die sie angerichtet haben, wäre das so schlimm?" (lacht) Da kriegte ich aber eins drauf. Die Bild-Zeitung stürzte sich auf die Causa und titelte sinngemäß: Mitscherlich will, dass die Deutschen aussterben.

SZ: Fehlt den Deutschen die Selbstironie?

Mitscherlich: Zumindest haben sie weit weniger davon als Engländer oder Dänen. Die Fähigkeit, andere und sich selbst auf die Schippe zu nehmen, darin sind sie nicht sehr geübt. Vielleicht inzwischen etwas mehr.

SZ: Wie verhält es sich mit der Liebe zum Land? Haben wir heute Grund, stolz auf diese bundesrepublikanische "Familie" zu sein?

Mitscherlich: Dummheit und Stolz wachsen auf einem Holz. Das Wort "Stolz" finde ich lächerlich. Wer von uns hat Grund, wirklich stolz zu sein? Es reicht doch, zu sagen: Wir bemühen uns! Wir bemühen uns, einen anständigen Staat herzustellen.

SZ: Können Sie etwas mit dem Begriff "Verfassungspatriotismus" anfangen?

Mitscherlich: Derjenige, der dieses Wort wohl geprägt hat, ist einer meiner besten Freunde: Jürgen Habermas. Damit ist gemeint: Das Nüchterne. Nüchtern versuchen, uns zu einer Verfassung zu bekennen und einzuhalten, einen Grundvertrag über Werte.

SZ: Können Sie verstehen, dass jüngeren Deutschen das Herz aufgeht, wenn bei Sportveranstaltungen die schwarzrotgoldene Flagge gehisst wird?

Mitscherlich: Nein, weil ich einfach anders empfinde, aber ich bin auch nicht dagegen. Gerade Schwarz-Rot-Gold finde ich akzeptabel. Diejenigen, die als Erste diese Farben verwendet haben, wollten schließlich Deutschland einigen. Sie versammelten sich 1848 hier in Frankfurt in der Paulskirche zur Nationalversammlung und strebten nach einer parlamentarischen Monarchie. Staatsflagge wurde Schwarz-Rot-Gold in der Weimarer Republik, die Nazis schafften sie wieder ab. Sie sehen: Gegen Schwarz-Rot-Gold ist wenig einzuwenden.

SZ: Hat der Patriotismus in Deutschland Zukunft?

Mitscherlich: Gelegentlich kommt das Nationale noch bei Fußballspielen unter den Zuschauern hoch. Aber ich glaube, Nationalstolz, wie er vor 1945 üblich war, gibt es in breiten Teilen der Bevölkerung nicht mehr, das ist in Deutschland gottlob vorbei.

SZ: Sie schrieben einmal, Deutschland sei vor Hitler eine Kulturnation gewesen, durch die Nazis sei es zum Land der Mörder geworden. Und nun, nach 60 Jahren Bundesrepublik, was sind wir jetzt für ein Land?

Mitscherlich: Wir sind mittlerweile eine stabile Demokratie, immerhin. Und das ist ein Umstand, über den ich mich sehr freue. Deutschland ist heute tolerant, weil es internationaler geworden ist.

SZ: Leisten die Deutschen inzwischen ausreichend Erinnerungsarbeit?

Mitscherlich: Im Großen und Ganzen ja. Es gibt wohl kaum ein Land, in dem man gelernt hat, mit so viel Ernsthaftigkeit von der eigenen, bösen Vergangenheit zu sprechen. Vielleicht sind die Deutschen sogar ein bisschen froh darüber, selbstbewusst mea culpa sagen zu können.

SZ: Sie klingen, als seien sie zufrieden mit den Deutschen.

Mitscherlich: Ich finde es bemerkenswert, wie gelassen sie inzwischen sind. Früher schwankten sie zwischen dem Herrenmenschengehabe und der großen Jammerei. Gerade jetzt, in der Krise, zeigt sich, dass sich das geändert hat. Die Deutschen bleiben vernünftig. Vielleicht werden wir doch noch das nachdenkliche, reife Volk, wer weiß. Möglich ist es.

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