Manuel Valls ist ein beharrlicher Mensch. Diese Eigenschaft teilt er mit seinem Vorbild Georges Clémenceau, dem französischen Regierungschef im Ersten Weltkrieg, der gegenüber Deutschland unnachgiebig blieb. "Clémenceau war zu dieser Zeit übrigens viel älter als ich es heute bin", sagt Valls und lächelt. Fast klingt es wie eine Drohung. Der ehemalige französische Premierminister sitzt an einem runden Eichenholztisch in seinem Büro. Das Jackett hat er abgelegt, den ersten Knopf seines weißen Hemdes aufgeknöpft. Sein Zimmer ist zwar groß, aber sehr leer. Bis auf eine Fotografie einer Fabrikhalle hängt nichts an der Wand.
Valls Kampagnenzentrale liegt direkt an der Passeig de Gràcia, Barcelonas bekannter Einkaufsstraße. Valls hat Frankreich den Rücken gekehrt: "Meine politische Karriere dort ist vorbei", sagt er nonchalant. Während er spricht, spielt er mit einer Büroklammer herum. Der Kampf, den er jetzt austrage, der auf den ersten Blick so viel kleiner erscheinen mag, stehe stellvertretend für den Kampf Europas gegen die Populisten und Nationalisten.
Valls will Bürgermeister werden. Nicht in Frankreich, sondern hier, in seiner Geburtsstadt Barcelona. Die Kommunalwahl findet ebenso wie die Europawahl am Sonntag, den 26. Mai, statt. Vergangenen Sommer zog der 56-Jährige in die katalanische Hauptstadt. Von seinem Abgeordnetenmandat in Frankreich trat er zurück. Er war dort sowieso nur mehr ein Hinterbänkler, von wenigen geachtet, von den meisten verachtet.
Mehr Polizisten, bessere Ausstattung, Auflösung von Ghettos
Seine Entscheidung, in Barcelona zu kandidieren, wurde von vielen belächelt. Der bekannte französische Komiker Nicolas Canteloup scherzte, dass Valls auch bald in Algerien als Nachfolger des Präsidenten Bouteflika kandidieren werde. Valls, der unruhig wie eh und je in alle Richtungen schaut, sagt, er müsse niemandem mehr etwas beweisen. "Es geht nicht um meine Haut, nicht um meine Karriere." Er sorgt sich darum, dass Barcelona, die "europäische Stadt par excellence", wie er sie nennt, in die Hände der Populisten und Nationalisten fallen könnte.
Vor allem seine neue Lebensgefährtin Susana Gallardo, eine steinreiche Industrieerbin, soll ihn zu dem Schritt gedrängt haben. In Barcelona regiert derzeit die frühere Aktivistin Ada Colau, die von der spanischen Linkspartei Podemos unterstützt wird. Gegen sie setzt Valls auf ein strenges Law-and-Order-Programm. Mehr Polizisten, bessere Ausstattung, Auflösung von "Ghettos", wie Valls soziale Brennpunkte der Stadt zugespitzt nennt. Dazu muss man wissen, dass er einst als französischer Innenminister so viele Roma aus dem Land warf wie kein Amtsvorgänger zuvor. Und das als Sozialist.
Außerdem will Valls 10 000 Sozialwohnungen bauen und das Vertrauen der Unternehmer zurückgewinnen. 5000 von ihnen haben seit dem Unabhängigkeitsreferendum ihren Sitz aus Katalonien verlagert. "Ich denke, die Menschen wollen einen Wechsel. Und ich bin mit meiner Erfahrung und meinen Leadership-Qualitäten der Einzige, der diesen verkörpern kann." Selbstvertrauen war noch nie ein Problem von Manuel Valls.
Früh engagierte er sich für die französischen Sozialisten. Michel Rocard, Premierminister unter François Mitterrand, förderte ihn in jungen Jahren. Unter François Hollande stieg Valls selbst ins Kabinett auf. Erst wurde er Innen-, dann Premierminister. Der Pragmatiker wirkte in Konflikten selten deeskalierend, sondern zündelte lieber. Nach den blutigen Anschlägen in Paris erklärte er dem Terrorismus den Krieg. Nicht wohlgesonnene Parteikollegen nannten ihn einen "Neokonservativen", andere den "Hardliner" der Sozialisten.
Ende 2016 nahm er bei den Vorwahlen seiner Partei teil, um Präsident zu werden. Er fiel durch, dem Sieger Benoît Hamon in den Rücken und flog wegen Unkollegialität aus der Partei raus. Valls wurde ausgebuht, von einem Jugendlichen gewatscht und mit Mehl beworfen. Er war zu dieser Zeit der unbeliebteste Politiker Frankreichs. "Man muss damit klarkommen, unpopulär zu sein", sagt Valls über diese Zeit. Er schaut dabei etwas betreten auf den Tisch. Als unabhängiger Kandidat zog er noch einmal ins Parlament ein und schloss sich der Fraktion der Regierungspartei La République en Marche an.
Unbeliebt zu sein, damit kam der 56-Jährige klar, aber nicht unbedeutend zu sein. Als im Herbst 2017 das Unabhängigkeitsreferendum in Katalonien abgehalten wurde, mischte sich Valls auf allen Kanälen ein. Er betonte die Einheit Spaniens. In Frankreich, sagt Valls, sei er Republikaner. In Spanien wiederum Anhänger des Königshauses. Beide hätten sich um die Demokratie verdient gemacht. Und sein Lebenszweck sei es, die Demokratie gegen wen auch immer zu verteidigen. Terroristen, Populisten, Separatisten.
Die politische Konkurrenz belächelte seine Kandidatur anfangs, auch der im Exil lebende Separatistenführer Carles Puigdemont: "Er ist ein Kandidat, der Barcelona nicht kennt und den Barcelona nicht kennt", sagte er der Nachrichtenagentur AFP über Valls. Für den Angesprochenen eine Vorlage, die er sich nicht nehmen lässt: "Diese Menschen, die sich selbst Progressisten schimpfen, wollen die ganze Welt in Barcelona aufnehmen. Aber wenn einer, der hier geboren ist, Bürgermeister werden möchte, sagen sie, der könne das nicht. Puigdemont ist abgehauen, weil er der Justiz entkommen wollte. Ich aber bin hier."
Valls' Vater, ein katalanischer Maler, verließ Spanien mitsamt seiner Familie zu Zeiten der Franco-Diktatur. Zu Hause habe er mit ihm immer català gesprochen. Und auf den Marktplätzen und bei Podiumsdiskussionen, so sagen es auch Gegner, habe Valls kaum Probleme, die Sprache fast wie ein "Original" zu treffen. Seit mehr als einem Jahr, also schon vor Bekanntgabe seiner Kandidatur, erkundete Valls die Gegend. "Ich kenne nicht jede Ecke, aber das tut niemand", sagt er. Valls wäre jedoch nicht Valls, wenn alles glatt laufen würde. In einem Fernsehinterview musste er eingestehen, dass er keine Ahnung hatte, wie viel ein U-Bahn-Ticket koste.
Und dann wurde ihm gleich in zwei Fällen mangelnde Distanz zu Rechten vorgeworfen. In einem Wahlspot seiner Kampagne trat eine junge Frau auf, bei der sich später herausstellte, dass sie eine Rechtsextreme ist. Der Spot wurde wenig später aus dem Verkehr gezogen. Im März nahm Valls außerdem an einer Großdemo gegen Spaniens sozialistischen Premier Sánchez teil, weil der mit den katalanischen Separatisten verhandeln wollte. Zu der Demo hatten (blöderweise) Rechte und Rechtsextreme, unter anderem die Partei Vox, aufgerufen. Valls verteidigt sich: Es hätten Menschen demonstriert, die für die Verfassung seien: "Diejenigen, die mit einer geschlossenen, rassistischen Identität angefangen haben, die ganz im Gengensatz zu dem Katalonien steht, das ich kenne, sind doch die Separatisten."
Die Separatisten bezeichnet er mehrfach als Rassisten
Im Gespräch bezeichnet Valls die Separatisten gleich mehrfach als Rassisten. Immerhin hätten die doch die Spanier als "wilde Tiere" beschimpft. Ihr "identitäres Gerede" und deren gewollte "Rückkehr zur Sippschaft" bekämpfe er. Das Interessante dabei: Fragt man Valls danach, welche Identitäten er denn in sich trage, so antwortet er, er sei Franzose, Katalane und natürlich Barcelonist. Ein Spanier ist nicht dabei.
Am Ende könnten Valls ausgerechnet seine Unterstützer den Wahlsieg vereiteln. Als er seine Kandidatur bekannt gab, sicherten ihm die proeuropäischen, wirtschaftsliberalen Ciudadanos ihre Unterstützung zu. Auf dem Papier sind sie die stärkste Kraft in Katalonien. Valls betont zwar immer wieder, er sei ein unabhängiger Kandidat. Aber die Ciudadanos, sagen spanische Politikbeobachter, hingen ihm wie ein Klotz am Bein.
In einigen Umfragen käme Frankreichs Ex-Premier gar auf dieselbe Zahl an Sitzen im Stadtrat wie die Amtsinhaberin. Doch für eine Mehrheit würde es ohne Partner nicht reichen. Und die großen Parteien sagten aufgrund der Unterstützung der Ciudadanos eine Koalition mit Valls ab.
Sein Lebensmittelpunkt liege nun hier, in Barcelona, sagt Valls. Selbst im Falle einer Niederlage. "Das wäre halt eine Katastrophe für diese Stadt", ist er überzeugt. Weiterhin keine Selbstzweifel ersichtlich. Ob er vielleicht doch irgendwann mal nach Frankreich zurückkehren, sich vielleicht rächen wolle? Zum ersten Mal lacht er. "Nein", sagt er, "ich bin doch nicht Monte Cristo."