Der Hausmeister des derzeit wohl bekanntesten Hochhauses im südhessischen Heppenheim hat offenkundig genug. „Zur Information: Der Presse ist der Zugang nicht gestattet“, steht auf einem Zettel an der Eingangstür zu dem unscheinbaren Wohnblock, unterzeichnet mit „Der Hausmeister“. Bisher war Heppenheim ja vor allem Motorsportfans als Geburtsort des vierfachen Formel-Eins-Weltmeisters Sebastian Vettel ein Begriff, und vielleicht noch ein paar Hardcore-Liberalen als Gründungsort der FDP.
Jetzt aber wird die 25 000-Einwohner-Kommune vor allem im Zusammenhang mit einem 25-jährigen Afghanen genannt, der am vergangenen Freitag im knapp 40 Kilometer entfernten Mannheim mit einem Messer den Anti-Islam-Aktivisten Michael Stürzenberger angriff und insgesamt sechs Menschen verletzte. Einer davon, ein Polizist, starb zwei Tage später an den Folgen. Seitdem fragen sich viele, was das für ein Mensch war, und – da die Behörden von einem islamistischen Einzeltäter ausgehen – warum die Radikalisierung keinem aufgefallen war. Den Nachbarn nicht, und auch nicht den Sicherheitsbehörden.
Die Landeskriminalämter zählen insgesamt 480 islamistische Gefährder in Deutschland
Deshalb interessieren sich nun auch viele für das Hochhaus im Heppenheimer Westen, in dem der Mann mit Frau und zwei Kleinkindern im neunten Stock wohnte. Und obwohl er eine Fußmatte mit dem Aufdruck „Welcome“ vor der Wohnungstür liegen hatte, konnte man hier bis vergangenen Freitag wunderbar anonym leben. Wer Gesellschaft sucht, tut dies nicht in den grauen Fluren des Wohnblocks, sondern ein paar Meter weiter, an einem kleinen Kiosk.
Er habe den Mann bestimmt mal gesehen, aber nicht gekannt, erzählt ein Rentner, grauer Hoodie, Jeans, der seit zwölf Jahren im Erdgeschoss des Hochhauses wohnt und nun mit zwei anderen Männern mit Kaffee und Zigarette an einem Holztischchen vor dem Kiosk sitzt. Man kenne höchstens die direkten Nachbarn auf dem eigenen Stockwerk, sagt er. Und es sei auch nicht so, dass der Mann, nach dem sich nun alle erkundigen, der einzige Bewohner mit einem langen Bart sei. Vom Aussehen könne man ja ohnehin nicht auf die Gesinnung schließen.
Aber eine Sache will er auch noch loswerden, ohne Namensnennung bitte, man weiß ja nie: Deutschland sei schon lange nicht mehr sicher. „Jeder weiß das.“ Sein Sitznachbar nickt. Dann muss er weiter, bei Langnese um die Ecke beginnt gleich seine Schicht.
In der Theorie wissen natürlich auch die Sicherheitsbehörden, dass es potenzielle radikalislamische Attentäter gibt, sie können sogar mit offiziellen Zahlen aufwarten. Anfang April zählten die Landeskriminalämter insgesamt 480 islamistische Gefährder, also Menschen, denen die Polizei zutraut, jederzeit einen Anschlag zu begehen. Das geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der AfD-Fraktion hervor. Sulaiman A. war nicht dabei.
Die Akte des Täters liest sich unverdächtig
Denn wenn jemand sich bis zur Tat nichts zuschulden kommen lässt und also weder der Polizei noch dem Verfassungsschutz auffällt, wird es eben schwierig. Die Akte von Sulaiman A. beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge liest sich unverdächtig: seit 2013 in Deutschland, seit 2019 mit einer deutschen Staatsbürgerin verheiratet, Vater zweier deutscher Kinder, und deshalb auch trotz eines zunächst abgelehnten Asylantrags mit gültigem Aufenthaltstitel, aktuell bis 2026. Er soll Kampfsportler gewesen sein, sich auch mal in der Flüchtlingshilfe engagiert haben. Sulaiman A. galt bei den Behörden als „gut integriert“, heißt es aus Sicherheitskreisen.
Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU) hat in dieser Woche gesagt, dass es sich wohl um einen islamistisch radikalisierten Einzeltäter handele. Gerade diese Leute seien besonders gefährlich. Denn sie griffen, einerseits, oft zu leicht verfügbaren Waffen wie Messern oder Fahrzeugen. Und sie seien, andererseits, schwer zu greifen. „Wo keine Kommunikation stattfindet, kann man auch keine Kommunikation überwachen.“
„Praktisch niemand radikalisiert sich ganz allein und isoliert.“
Tatsächlich sollen die Ermittler bis jetzt keine verdächtigen Chats auf A.s Smartphone gefunden haben, die vor der Tat hätten auffallen können. Was nicht heißt, dass es definitiv keine gab – er soll vor dem Attentat am vergangenen Freitag Daten von seinem Handy gelöscht haben. Allerdings sollen die Ermittler nach Informationen der Süddeutschen Zeitung aus Sicherheitskreisen Hinweise darauf haben, dass Sulaiman A. oder jemand aus seinem persönlichen Umfeld möglicherweise Geld an islamistische Kreise geschickt hat, es soll sich um Kleinspenden handeln.
„Einzeltäter ist ein islamistischer Terrorist nur bei der Tat selbst“, sagt Hans-Jakob Schindler. Er leitet das deutsche Büro des Thinktanks Counter Extremism Project (CEP). „Praktisch niemand radikalisiert sich ganz allein und isoliert“, sagt er. Da sei immer auch ein soziales Umfeld, das irgendetwas mitbekommen dürfte, da seien Propagandaforen, in denen sich Islamisten austauschen, und in den allermeisten Fällen eben auch Chatgruppen mit Gleichgesinnten.
Aber Schindler sieht schon eine Veränderung, die es Polizei und Verfassungsschutz immer schwerer mache: Früher gab es mehr physische Treffpunkte, an denen Islamisten zusammenkamen, Szenemoscheen vor allem. Für Observationsteams keine unlösbare Aufgabe, diejenigen im Blick zu behalten, die sich da trafen. Anis Amri, der Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz, entwischte ihnen trotzdem, aber sie hatten ihn im Visier.
Auch die Spezialeinheiten können nicht alles im Blick behalten
Das, sagt Schindler, sei inzwischen wesentlich schwieriger. „Social Media sind die neuen Hinterhofmoscheen.“ Fachleute aus Forschung und Behörden berichten, dass die allermeisten Islamisten sich mittlerweile viel stärker noch als vor ein paar Jahren über Telegram-Foren oder andere Chatgruppen radikalisieren.
Einige Verfassungsschutzämter haben in den vergangenen paar Jahren Spezialeinheiten aufgebaut, die gezielt solche islamistischen Internetforen in den Blick nehmen. Sie setzen auch „virtuelle Agenten“ ein, die sich unter falscher Identität in die Gruppen einschleusen. Trotzdem bleibt vieles unentdeckt, allein schon wegen der schieren Menge der Foren und Gruppen.
Und so weitreichend wie zum Beispiel das FBI dürfen deutsche Sicherheitsbehörden das Netz und vor allem private Chats nicht überwachen. „Das wird zu einem immer größeren Problem“, sagt Schindler. Die Deutschen sind immer wieder darauf angewiesen, dass ihre ausländischen Partnerbehörden, allen voran die US-amerikanischen, sie auf verdächtige Chats hinweisen. Im Mannheimer Fall hat es offenbar allerdings nicht mal vom FBI einen Tipp gegeben.