Manipulationsverdacht in Russland:Michail Gorbatschow fordert Neuwahlen

"Eine Lüge tötet die Glaubwürdigkeit einer Regierung": Mit herben Worten verlangt Friedensnobelpreisträger Gorbatschow, die russische Parlamentswahl zu annullieren. Während der Widerstand der Bevölkerung wächst, reagiert der Moskauer Machtapparat pikiert auf Kritik.

Friedensnobelpreisträger Michail Gorbatschow hat nach der von Fälschungsvorwürfen überschatteten Parlamentswahl in Russland Neuwahlen gefordert. "Die Führung des Landes muss anerkennen, dass es zahlreiche Verstöße und Manipulationen gegeben hat, und dass die veröffentlichten Ergebnisse nicht den Willen der Wähler wiedergeben", sagte der einstige Sowjetpräsident in Moskau.

Michail Gorbatschow

"Das könnte das Land destabilisieren": Michail Gorbatschow warnt vor den Folgen möglicher Wahlfälschungen in Russland.

(Foto: AFP)

"Eine Lüge tötet die Glaubwürdigkeit einer Regierung", erklärte Gorbatschow. Immer mehr Russen glaubten den veröffentlichten Ergebnissen nicht, fügte der frühere Kremlchef hinzu. "Das könnte das Land destabilisieren." Gorbatschow hatte bereits wiederholt die Politik von Regierungschef Wladimir Putin kritisiert. Anders als im Westen ist Gorbatschow in seiner Heimat allerdings als "Totengräber der Sowjetunion" stark umstritten, während Putin als Russlands starker Mann gilt.

Zuvor hatten bereits mehrere Politiker am Rande des OSZE-Treffens in der litauischen Hauptstadt Vilnius Kritik an der Wahl geäußert. Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) forderte die russische Führung auf, den Hinweisen auf massive Wahlfälschungen nachzugehen. US-Außenministerin Hillary Clinton nannte die Wahl "weder frei noch gerecht".

"Der Aufmarsch der Truppen ist ein weiteres Beispiel für den Rückfall in alte Muster russischer Politik", kritisierte der Russland-Beauftragte der Bundesregierung, Andreas Schockenhoff (CDU), in einer Mitteilung. "Russland braucht kein Zurück in die Vergangenheit, Russland braucht eine echte Modernisierung."

Regierung weist Vorwürfe als "unanehmbar" zurück

Die russische Führung reagierte verärgert und wies die Kritik scharf zurück. Es sei Sache der Regierung und nicht internationaler Beobachter, aus möglichen Mängeln bei der Abstimmung die richtigen Schlüsse zu ziehen, sagte Präsident Dmitrij Medwedjew bei einem Treffen mit Wahlleiter Wladimir Tschurow. "Als Nächstes sagen sie uns noch, wie unsere Verfassung auszusehen hat", so der Kremlchef, der 2012 sein Amt an seinen Vorgänger und heutigen Ministerpräsidenten Putin übergeben will.

Auch das Außenministerium in Moskau wehrte sich gegen die Vorwürfe aus dem Ausland und bezeichnete sie als "unannehmbar". Die USA sollten den Weg der Zusammenarbeit mit Russland weiterverfolgen statt Stereotypen zu verbreiten.

Regierungslager kündigt "neuen Putin" an

Die Wahlkommission hatte der Partei Einiges Russland mit knapp 50 Prozent der Stimmen den Sieg bei der Wahl zugesprochen - für die dominierende politische Kraft war dieses Ergebnis dennoch ein herber Dämpfer. Die Partei ist auf Russlands starken Mann zugeschnitten, den sie als Kandidat für die Präsidentenwahl am 4. März 2012 nominiert hatte: Wladimir Putin.

Manipulationsverdacht in Russland: "Gebt uns die Wahl zurück, ihr Gauner!", mit Plakaten demonstrieren Oppositionelle am Dienstagabend gegen die mutmaßliche Wahlfälschung der Regierungspartei - Hunderte wurden von der Polizei festgenommen.

"Gebt uns die Wahl zurück, ihr Gauner!", mit Plakaten demonstrieren Oppositionelle am Dienstagabend gegen die mutmaßliche Wahlfälschung der Regierungspartei - Hunderte wurden von der Polizei festgenommen.

(Foto: AP)

Im ganzen Land brachen nach der Wahl Proteste aus. Die Polizei ging hart gegen die Regierungsgegner vor und hat mehr als 800 Menschen in Moskau und Sankt Petersburg vorläufig festgenommen. In der Hauptstadt kamen unter anderem der Regierungskritiker und frühere Vize-Regierungschef Boris Nemzow, der Oppositionspolitiker Sergej Mitrochin von der liberalen Jabloko-Partei sowie Journalisten und Menschenrechtler in Polizeigewahrsam. Nemzow und Mitrochin sind inzwischen wieder auf freiem Fuß.

In Moskau riegelten Hunderte Polizisten einen zentralen Platz ab, auf dem Demonstranten den zweiten Tag in Folge gegen den mutmaßlichen Wahlbetrug durch die Regierungspartei Einiges Russland von Ministerpräsident Wladimir Putin demonstrieren wollten. Die Polizei bestätigte nach Angaben der Agentur Interfax am Dienstagabend mehr als 300 Festnahmen, auch Flüchtende wurden verfolgt. In Sankt Petersburg führte die Polizei mehr als 200 Regierungsgegner ab, wie das kremlkritische Internetportal kasparov.ru berichtete. Es gab mehrere Verletzte.

"Putin will als unabhängiger Politiker wahrgenommen werden"

Der russische Journalistenverband protestierte gegen die illegale Festnahme von Reportern. Zuvor hatte die Staatsmacht Sondereinheiten des Innenministeriums an wichtigen Punkten in Moskau stationiert. Sie sollten unter anderem das Parlament schützen. Mehrere Oppositionelle erhielten wegen angeblichen Widerstands gegen die Polizei mehrtägige Arreststrafen. Der Chef der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial, Oleg Orlow, warf der Polizei "überharte" Gewalt vor.

Der amtierende Premier forderte seine Partei inzwischen auf, schnellstens auf die Probleme der Bürger einzugehen und die Verletzung von Menschenrechten zu verhindern. Putin kündigte für die Zeit nach der Präsidentenwahl Erneuerungen im Machtapparat an.

Putins Sprecher Dmitrij Peskow hatte zuvor in einem Interview mit dem russischen Dienst der BBC gesagt, dass die Menschen einen "neuen Putin" erwarteten. Der 59-Jährige wolle als "unabhängiger Politiker" wahrgenommen werden, sagte Peskow. "Er hat die innere Reserve, um die Lage im Land zu verbessern."

Während sich die Lage im Land verschärft, lässt Russland außenpolitisch die Muskeln spielen: Als Reaktion auf die geplante US-Raketenabwehr in Europa stationiert die Regierung nach einem modernen Radarsystem nun auch Flugabwehrraketen in der Ostsee-Exklave Kaliningrad um das frühere Königsberg. Das System des Typs C-400 Triumph werde in Kürze nach einer Übung verlegt werden. Es solle künftig den Westen Russlands schützen, kündigte ein Sprecher des Verteidigungsministeriums an.

Die Raketen können sowohl gegen Kampfflugzeuge und Marschflugkörper als auch gegen Kurz- und Mittelstreckenraketen eingesetzt werden. Ebenfalls geplant ist die Stationierung von Boden-Boden-Raketen des Typs Iskander in der Region zwischen den Nato-Staaten Polen und Litauen.

Er hoffe, dass Russland und die Nato ihre "allseits bekannten Schwierigkeiten überwinden" könnten, sagte Medwedjew unterdessen in Moskau. Russland lehnt den geplanten US-Raketenschild aus Angst um seine Sicherheit ab und hat wiederholt ein gemeinsames System vorgeschlagen. Die Nato bietet Moskau lediglich zwei separate, wenn auch eng verbundene Systeme an.

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