Manipulation:Unerhört

Eine neue Software kann Sprachaufnahmen so bearbeiten, dass ein Mensch etwas völlig anderes zu sagen scheint als im Original. Die damit entstehenden Möglichkeiten zu Fälschungen sind enorm.

Von Johannes Boie

War sich Angela Merkel wirklich sicher, als sie sagte: "Wir schaffen das"? Vielleicht werden in nicht allzu ferner Zukunft Tonaufnahmen auftauchen, auf denen die Kanzlerin stattdessen sagt: "Wir vermasseln das." Und vielleicht hatte Martin Luther King, der Held der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, gar keinen "Traum", sondern einen "Riesenhunger"? Und forderte Ronald Reagan 1987 in Berlin wirklich, die Mauer einzureißen - oder sagte der US-Präsident in Wahrheit nur, dass die Mauer mal dringend gestrichen werden müsste?

Verzerrungen, Lügen, Manipulationen in Tondokumenten: All das wird künftig möglich werden mit einer neuen Software, die der Konzern Adobe jetzt in San Diego präsentiert hat. Das Programm kann in der Stimme einer beliebigen Person Worte und ganze Sätze formen. Bislang handelt es sich nur um ein Projekt, das den Titel "VoCo" trägt. Wenn die Software wie andere Adobe-Produkte frei verkauft wird, werden Tonaufnahmen massenhaft gefälscht, verändert, umgeschrieben werden können. Tondokumente werden so veränderbar sein, wie es heute bereits Bilder sind. Nahezu alle Fotos, die ein Mensch im öffentlichen Raum sieht, sind heute bereits bearbeitet, die meisten davon übrigens mit einem anderen Produkt von Adobe, der weit verbreiteten Software Photoshop.

Während der Präsentation der Software veränderte ein Adobe-Manager auf der Bühne aufgezeichnete Sätze, die ein Komiker nur Minuten vorher auf der Bühne ausgesprochen hatte. Zunächst verschob der Manager lediglich Worte innerhalb der aufgenommenen Sätze des Komikers. Das ist mithilfe von Schnittprogrammen seit Jahren möglich. Dann aber fügte der Adobe-Manager ganz neue Worte in den Satz des Komikers ein, und zwar indem er sie mit der Tastatur schrieb.

Der Software war es möglich, die Worte in der Stimme des Komikers über einen Lautsprecher auszusprechen und dabei den Rhythmus des gesamten Satzes weiterhin normal klingen zu lassen. Die Software benötigt dazu nach Angaben von Adobe lediglich etwa 20 Minuten Tonbandaufnahme von der Person, deren Worte sie imitieren soll, sowie ein Transkript des Gesprochenen. Die Software zerlegt dann die Worte in einzelne Laute, aus denen sie wiederum neue Wörter zusammenbauen kann.

Die Folgen dieser Entwicklung sind nicht absehbar. Gefälschte Geständnisse in Prozessen, manipulierte Aussagen von Politikern oder Wirtschaftsführern, erlogene Interviewaussagen - alles liegt im Bereich des Möglichen. Die Entwicklung kommt zu einem Zeitpunkt, an dem Manipulation für viele Staaten ein politisches Werkzeug ist. So beschäftigt die russische Regierung als Teil einer Propaganda-Einheit bereits heute Menschen, die systematisch Bilder manipulieren. Ihr Aufgabengebiet könnte sich erweitern.

Auch Berufe dürften sich verändern, wenn die Software auf den Markt kommt, Nachrichten- und Synchronsprecher sowie Schauspieler könnten es als Erste merken. Allerdings werden wohl auch neue Aufgaben entstehen, etwa die des Ton-Forensikers, der künftig untersuchen muss, ob eine Aufnahme gefälscht oder authentisch ist. Software, heißt es bei Adobe, könne dabei helfen.

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