Süddeutsche Zeitung

Manfred Weber:Ein Bayer in Europa

Der CSU-Politiker Manfred Weber geht als Spitzenkandidat der Christdemokraten in die Europawahl. Er gilt als leise, verbindlich und pragmatisch - und dürfte nun in Brüssel doch auf Skepsis stoßen.

Von Thomas Kirchner, Brüssel

Eigentlich muss man sich wundern, dass ausgerechnet Manfred Weber zum christdemokratischen Spitzenkandidaten für die kommende Europawahl benannt worden ist. Mit einiger Wahrscheinlichkeit wird der Niederbayer nun auch Präsident der Europäischen Kommission, jener mächtigen Behörde, die die europäische Politik wie eine Regierung steuert, und die in der Regel als Einzige befugt ist, Gesetze vorzuschlagen und deren Einhaltung in Europa zu überprüfen.

Das ist eine bemerkenswerte Leistung, weil Weber Deutscher ist - und CSU-Politiker. In Brüssel wird seit Jahren geklagt über den angeblich übermäßigen Einfluss der Deutschen. Tatsächlich besetzen sie viele Schlüsselpositionen in den Parteien und in der europäischen Verwaltung. Zudem spiegeln solche Klagen die große wirtschaftliche und politische Macht dieses Staates wider. Ein Deutscher an der Spitze der Kommission könnte, so die Befürchtung großer Nachbarstaaten, einen noch kürzeren Draht nach Berlin haben, als er dem derzeitigen Amtsinhaber Jean-Claude Juncker nachgesagt wird. Er könnte also deutsche Interessen - vielleicht auch nur unbewusst - stärker gewichten, als es angemessen und gut für Europa wäre.

Und dies als Mitglied einer Partei, die lange vor dem Aufkommen der AfD auf durchaus fragwürdige Art mit den antieuropäischen Instinkten der Menschen spielte. Wer den bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder in einem fränkischen Bierzelt über den angeblichen Brüsseler Wahnwitz hat herziehen hören, kann fast nicht glauben, dass sein Parteifreund Weber kurz davor steht, Europa zu führen. Ein Politiker noch dazu, der ein recht bairisches Englisch und kein Französisch spricht, worüber mancher in Brüssel die Nase rümpft.

An Webers europäischer Überzeugung gibt es nichts zu deuteln

Warum hat sich der meist mild lächelnde und nicht zum Poltern neigende Mann aus Wildenberg im Landkreis Kelheim trotzdem durchgesetzt? Das liegt zunächst daran, dass es an seiner europäischen Überzeugung nichts zu deuteln gibt. Europa lohnt sich, ohne Europa geht es nicht, das hat Weber in Wort und Tat oft zum Ausdruck gebracht. Warum sonst wäre er, gerade 32 Jahre alt und Mitglied des Bayerischen Landtags mit guten Karriereaussichten, 2004 als Abgeordneter ins Europäische Parlament gezogen, freiwillig und zu einer Zeit, als diese Institution noch als Abstellgleis für abgehalfterte Politiker galt?

In Brüssel gewöhnte sich der verheiratete Katholik schnell die bayerisch-derben Sprüche ab, die er als Landeschef der Jungen Union noch geklopft hatte, knüpfte Netze, arbeitete sich empor. Seit 2014 leitet er die EVP-Fraktion, die größte Gruppe im Europäischen Parlament; mit seiner leisen, verbindlichen und pragmatischen Art hat er sich quer durch die Reihen Vertrauen erworben. Der grüne Spitzenpolitiker Reinhard Bütikofer etwa, der sich zusammen mit dem CSU-Mann die Nächte bei den gescheiterten Verhandlungen zur Berliner Jamaika-Koalition um die Ohren schlug, schätzt den Kollegen trotz aller politischen Gegensätze: "Weber hält sein Wort, trickst nicht, ist an der Sache orientiert. Und er besticht durch eine Bescheidenheit, die manchem fehlt in Brüssel."

Weber galt lange als Zauderer, niemand wusste, wohin er will. Als Martin Schulz vor zwei Jahren wegen der SPD-Kanzlerkandidatur sein Amt als Präsident des Europäischen Parlaments räumte, wurde auch Weber als möglicher Nachfolger genannt. Doch der winkte ab, hatte wohl schon damals ein höheres Ziel im Visier. Manchmal muss man eben warten, bis der richtige Moment im Leben kommt. Aus jetziger Sicht war es taktisch klug, dass Weber seinen Hut schon sehr früh in diesem Vorwahljahr in den Ring warf, am Ende der parlamentarischen Sommerpause, weit früher als der Finne Alexander Stubb, den er nun besiegt hat. Erst sicherte sich der Deutsche den Rückhalt von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), später blieb ihm Zeit genug, die europäischen christdemokratischen Parteien für sich zu gewinnen. Das ist ihm gelungen, nur der Norden Europas stand hinter Stubb.

Webers offene Flanke war stets sein gutes Verhältnis zu Viktor Orbán, das zum Teil inhaltliche Gründe hatte - auch Weber will die Migration nach Europa eindämmen -, überwiegend aber taktischer Natur war, schließlich gehört Orbáns Fidesz-Partei zur EVP-Familie. Aber kann das so bleiben, wenn der Ungar gegen die EU hetzt, Flüchtlinge mit Grenzzäunen abschreckt, die Unabhängigkeit der Justiz und die Freiheit der Medien infrage stellt und immer wieder gegen europäische Grundwerte verstößt? Weber verteidigte Orbán erst, forderte "keine Kritik, sondern Dank und Respekt" für die Grenzzäune. Später empfahl er sich als "Brückenbauer" in Richtung Osten.

Der Lackmustest kam vor einigen Wochen, als das Europaparlament dazu aufforderte, auch gegen Ungarn ein Rechtsstaatlichkeitsverfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags einzuleiten. Im Gegensatz zu seinen christsozialen Fraktionskollegen stimmte Weber zu - wohl wissend, dass seine Kandidatur sonst wohl gescheitert wäre. Hinter den Kulissen wurde nun noch eine unverbindliche "Notfall-Resolution" der EVP erarbeitet und in Helsinki verabschiedet, die ein Zeichen in Richtung Warschau und Budapest sendet. Ungarn wird nicht namentlich erwähnt, aber es werden jene verdammt, die gegen zentrale Prinzipien verstoßen: "den Rechtsstaat und das Mehrparteiensystem, eine starke Zivilgesellschaft mit unabhängigen Medien, die Freiheit der Religion und der Meinungsäußerung und die Versammlungsfreiheit". Weiter heißt es: "Populistischer und nationalistischer Extremismus, Falschinformation, Diskriminierung und Verstöße gegen das Rechtsstaatsprinzip stellen die größte Bedrohung für Freiheit und Demokratie in Europa seit dem Fall des Eisernen Vorhangs dar." Diese Werte sollten alle EVP- Mitglieder respektieren und schützen.

Was die Grundwerte betreffe, gebe es für Orbán "keinen Verhandlungsrabatt", bekräftigte Weber am Mittwoch beim EVP-Kongress in Helsinki. "Jeder hat sie zu akzeptieren, jeder hat sie einzuhalten." Einen Ausschluss Orbáns lehnte er aber erneut ab, er setze auf "Dialog". Ein halbstündiges Rededuell mit Stubb in Helsinki geriet schließlich zu einem skurrilen Überbietungswettbewerb: Man müsse "auf die Barrikaden gehen", um die Werte der EU zu verteidigen, forderte der Finne. Weber konterte mit dem Ruf nach einem neuen "verbindlichen Rechtsstaatsmechanismus", den er als Kommissionspräsident vorschlagen würde. Woraufhin Stubb sich den Hinweis erlaubte, dass es diesen Mechanismus ja schon gebe (eben jenen nach Artikel 7 des EU-Vertrags) und er nur angewandt werden müsse.

Doch was ist mit Webers fehlender Regierungserfahrung? Nicht ein einziges öffentliches Amt hat er bisher innegehabt. "Ich verweise darauf, dass ich jetzt seit vier Jahren die größte Fraktion führe", sagt der neue Spitzenkandidat dazu. "Ich traue mir zu, dass ich heute in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, in den 27 Staaten, gut Bescheid weiß, über die dortigen Sorgen der Menschen, über die Probleme, weil ich seit Jahren an diesen Themen arbeite."

In seinem Bewerbungsvideo hob Weber auf dieses Argument ab: dass er mit seiner niederbayerischen Heimat verwachsen sei, die Probleme der Menschen kenne und verstehe. Er inszenierte sich als Verwurzelter, als Politiker, der nicht zur angeblich abgehobenen Kaste von Technokraten im fernen Brüssel gehöre. Auf genau diesen Aspekt legte wiederum Stubb in seinem Video Wert: seine Zugehörigkeit zur europäischen Führungselite, der er unter anderem als zeitweiliger Premierminister seit Jahren angehört. Das hat Weber wohl eher genutzt als geschadet.

Dass der 46-Jährige nun auch Kommissionspräsident wird, ist wahrscheinlich, aber nicht sicher. Zum einen könnte es passieren, dass sich im Europäischen Parlament ein progressives Bündnis aus Sozialdemokraten, Grünen, Linken und Liberalen zusammenschließt, um sich hinter dem linken Kandidaten Frans Timmermans zu versammeln. Allerdings müsste da Frankreichs Präsident Emmanuel Macron mitspielen, der das Spitzenkandidaten-Spiel bisher nicht mitspielen möchte. Zum anderen haben sich die Staats- und Regierungschefs die Möglichkeit ausbedungen, notfalls auch einen Nichtspitzenkandidaten für den Posten vorzuschlagen. Entscheiden wird sich das erst nach den Europawahlen im Mai 2019.

Manfred Weber hat eine wichtige Etappe gewonnen. Der Weg zum Ziel ist noch weit.

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