Maidan in der Ukraine-Krise:Kleine Welt inmitten des Sturms

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Mitglieder der Selbstverteidigungskräfte marschieren auf den Straßen rund um den Maidan (Foto: REUTERS)

Hier hat alles begonnen. Doch der Maidan in Kiew ist von einem Kraftzentrum der demokratischen Bewegung zu einem Ort der Witzbolde, Radikalen und Unversöhnlichen geworden. Aus ihrer Sicht haben sie die Wahl zwischen ewiger Sklaverei und Auflehnung gegen einen arroganten Zaren.

Von Cathrin Kahlweit, Kiew

Auf dem Maidan steht seit Wochen eine Pyramide. Kurz nach den Todesschüssen vom Februar, als auf dem Unabhängigkeitsplatz fast hundert Menschen starben und der gut gelaunte Volksaufstand, dessen Folgen die Ukraine mittlerweile zu zerreißen drohen, endgültig in eine Katastrophe umkippte, bauten ein paar begeisterte Freiwillige sie aus Holz und stülpten eine Plane aus gelbem Plastik darüber.

Hier wurde für die Opfer und ihre Familien gebetet, Priester sangen unter Ikonen, die jemand mit groben Nägeln an die Balken geschlagen hatte. Die gelbe Pyramide war, wie Tausende Kerzen auf dem Platz im Stadtzentrum, wie die Fotos der Opfer, die Kinderbilder, die Blumen, ein Symbol der Trauer. Und der Einheit. Wenn so etwas passieren kann, wenn Scharfschützen Demonstranten killen, dann müssen wir zusammenstehen. Das war die Botschaft vom Maidan.

Bis heute ist nicht wirklich geklärt, wer damals auf wen geschossen hat, auch wenn die Staatsanwaltschaft einen Bericht vorgelegt hat, der die Schuld allein bei der damaligen Staatsmacht und dem kurz darauf geflüchteten Präsidenten Viktor Janukowitsch sucht. Eine unabhängige Untersuchung steht aus, genau wie in Odessa, wo wohl noch lange ungeklärt bleiben wird, wie genau die vielen Opfer im Gewerkschaftshaus gestorben sind; allein am Feuer dürfte es nicht gelegen haben.

Der Euro-Maidan hat seine Unschuld längst verloren

Der Euro-Maidan, wie er im Winter noch unschuldig hieß, hat seine Unschuld längst verloren. Auch die siegreiche Ex-Opposition, die jetzt in Kiew regiert, hat ist mittlerweile zerstritten und befindet sich im Kampf mit sich selbst, im Wahlkampf, im Kampf gegen die Separatisten im Osten und im Kampf gegen Russland. Und der Maidan ist von einem Kraftzentrum der demokratischen Bewegung zu einem Ort der Übriggebliebenen, der Witzbolde, der Radikalen und der Unversöhnlichen geworden. In der gelben Plastik-Pyramide hängt zwar noch eine Ikone, aber gebetet wird dort nur noch selten. Stattdessen hat jemand am Eingang ein heiteres Schild befestigt: "Weltwunder. Eliminiert Stress, verjüngt das Immunsystem". Das klingt nicht sehr wahrscheinlich, obwohl: Die Ukraine könnte es gebrauchen.

Valentin Onyschtschenko ist von Anfang an dabei gewesen. Der Jurastudent hatte sich seit Dezember bei der Maidan-Selbstverteidigung als Krankenhelfer engagiert. Der 22-Jährige spricht drei Sprachen fließend und zwei weitere recht gut, er war schon in den USA und in Israel; einen wie ihn, würde man meinen, kann ein Land wie die Ukraine gut brauchen. Im Sommer ist er mit dem Studium fertig, aber wie es dann weitergeht? "Keine Ahnung. Das Justizsystem ist korrupt, und die Rechtsanwaltsfirmen nehmen nur Leute, die sich in diesem verrotteten System auskennen." Valentin war ein Überzeugungstäter auf dem Euro-Maidan, er wollte ein anderes Land.

Am 20. Februar, am Tag der Scharfschützen, wurde genau einen Meter vor ihm ein Mann erschossen, Blut spritzte über sein ganzes Gesicht. "Ich stand bewegungslos da, und nach einer gefühlten Stunde, wahrscheinlich waren es aber nur Sekunden, dachte ich: Das muss ich irgendwo abwaschen. Alles, woran ich denken konnte, war das Abwaschen." Ein Schock, ganz klar, dann folgte das posttraumatische Stress-Syndrom, er schlief schlecht. Jetzt führt er distanziert durch die Reste dessen, was stehen geblieben ist von den Monaten des Kampfes, der eiskalten Nächte, der Euphorie. Die meisten Barrikaden sind abgebaut, die Demonstranten sind nach Hause gegangen, die Bühne, auf der im Winter rund um die Uhr geredet und gepredigt und gesungen wurde, ist verwaist.

Der Präsidentschaftswahlkampf, für den sich die Bühne gut anbieten würde, findet anderswo statt, denn diese heilige Stätte der Gemeinsamkeit soll nicht entweiht werden durch Reden gegeneinander, übereinander. Und überhaupt ist von Gemeinsamkeiten auch hier nicht mehr viel zu sehen. "Meine russischen Freunde, die anfangs mit uns sympathisierten, haben mir die Freundschaft gekündigt", sagt Valentin. "Sie sagen plötzlich, ich sei ein Nazi. Es war keine Debatte mehr möglich."

Die Fronten sind nun, da das Land zu zerfallen droht und Ost und West sich plötzlich feindselig gegenüberstehen, klar gezogen - auch auf dem berühmtesten Platz des Landes. Ein paar Hundert Menschen leben noch in einer gut ausgebauten Zeltstadt, versorgt von Feldküchen. Abends spielt manchmal jemand zwischen den Feuerstellen Gitarre oder dreht das Radio auf, dann tanzen ältere Frauen zusammen in den schmalen Durchgängen, während sich grinsende Männer in Camouflage-Hosen beim Bier an dem Anblick weiden. Auf Zeltwänden oder Schildern steht angeschlagen, aus welcher Stadt, welchem Dorf die Bewohner kommen. Fast immer liegen diese im Westen.

"Wähle!" heißt es auf einem Plakat, das jemand an eine Zeltwand geklebt hat. Darauf zu sehen: die zwei vielleicht berühmtesten Gemälde des russischen Malers Ilja Repin. "Die Wolgaschlepper" heißt das eine, darauf sind zerlumpte Elendsgestalten zu sehen, die ein Schiff an Seilen gegen den Strom zerren. Das andere zeigt die Saporoger Kosaken, die dem türkischen Sultan einen Brief schreiben. Der hatte der Legende nach befohlen, die Kosaken sollten "freiwillig aufgeben und mein Reich nicht länger durch Überfälle stören". Die aber dachten nicht an Unterwerfung und antworteten mit einem beleidigenden Brief.

In der Feldküche gibt es Gewürzgurken, die hier "grüne Männchen" heißen

Das also ist die Wahl, wenn es nach den Maidan-Bewohnern geht: ewige Sklaverei unter dem russischen Joch - oder Auflehnung gegen einen arroganten Sultan respektive Zaren. Ein paar Meter weiter gibt es ähnliche Botschaften: Ein Scherzbold hat eine satirische Speisekarte auf ein riesiges Schild gemalt, darunter kochen Freiwillige Suppe und schmieren Brote, wie sie es seit Monaten tun. Es gibt Gewürzgurken, die hier "grüne Männchen" heißen, und es gibt Angebote, die auf die mutmaßliche Geliebte von Wladimir Putin, die ehemalige Sportgymnastin Alina Kabajewa, anspielen: ein Salat aus kleinen Eiern, der hier als "Zerbrochener Traum von Alina Nummer eins" angeboten wird, der zerbrochene Traum Nummer zwei ist "Sahne, die nicht steif geworden ist", und so weiter.

Und dann gibt es da natürlich auch eine Fraktion, die nicht zu Scherzen aufgelegt ist. Denn auf dem Maidan sind nicht nur Männer wie Dima aus Lemberg und Andrij aus den Karpaten geblieben, die "sicherstellen wollen, dass es Wahlen gibt". Sie drohen ein bisschen, dass ein "dritter Maidan" anstehe, "wenn der neue Präsident kein Guter ist und das neue Parlament nicht gut entscheidet". Aber Dima und Andrij wirken nicht wie entschlossene Kämpfer, sondern eher so, als hätten sie kein Zuhause, in das es sie zurückzieht.

Da sind Sascha und Wolodja schon von anderem Kaliber. Sie bewachen den Eingang zum Rechten Sektor, der sich im Hauptpostamt eingerichtet hat. Die radikalen Nationalisten fordern "die Durchsetzung ukrainischer Interessen nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten". Sie wollen "die Aggressoren zurückwerfen und die Ukraine befreien". Antisemiten seien sie nicht, nur Patrioten. Und wen wollen sie wählen am 25. Mai? Am liebsten einen wie Charles de Gaulle, einen "erfahrenen General, der seinem Land neue Stärke gab". Zu schade auch: De Gaulle steht in der Ukraine bekanntlich nicht zur Wahl.

© SZ vom 15.05.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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