Maghreb:Tendenz zur Todesstrafe

In Algerien, Marokko und Tunesien flammt nach mehreren Verbrechen wie Morden an Frauen eine Debatte über Hinrichtungen auf. Zugleich wagen es viele weiterhin nicht, Vergewaltigungen und Tötungsdelikte anzuzeigen.

Von Dunja Ramadan

Chaima Sadou hatte alles richtig gemacht. Als die junge Algerierin, damals noch minderjährig, 2016 vergewaltigt wird, zeigen sie und ihre Familie den Täter an. Ein Schritt, den viele Familien in Algerien nicht wagen, weil sie sich vor gesellschaftlicher Ächtung fürchten. Als der junge Mann nach drei Jahren aus dem Gefängnis entlassen wird, nimmt er erneut Kontakt zu der mittlerweile 19-Jährigen auf, offenbar getrieben von Rachegefühlen. Anfang dieses Monats entführt und vergewaltigt er Chaima Sadou. Danach überschüttet er die bewusstlose junge Frau mit Benzin. Ihre verkohlte Leiche wird auf einer verlassenen Tankstelle in Thénia gefunden, 80 Kilometer östlich der Hauptstadt Algier.

Ihr Schicksal bestimmt seitdem die öffentliche Debatte in dem nordafrikanischen Land. Viele sehen ihren Fall als Beweis dafür, dass Vergewaltiger in Algerien zu milde davonkommen. Artikel 326 des Strafgesetzbuchs ermöglicht es Entführern von Minderjährigen, der Strafverfolgung zu entgehen, wenn sie das Opfer im Nachhinein heiraten. Das Angebot des Täters, Chaima Sadou zu heiraten, um Straffreiheit zu erlangen, lehnte ihre Familie damals ab. In Jordanien, Marokko, Ägypten, Tunesien und in Libanon ist dieses Gesetz Geschichte, in Algerien besteht es weiter.

Maghreb: Nach dem Mord an einer 19-Jährigen gingen Frauen in dieser Woche in Algier auf die Straße, um auf sie und weitere Gewaltopfer aufmerksam zu machen.

Nach dem Mord an einer 19-Jährigen gingen Frauen in dieser Woche in Algier auf die Straße, um auf sie und weitere Gewaltopfer aufmerksam zu machen.

(Foto: RYAD KRAMDI/AFP)

Seitdem sich die in Tränen aufgelöste Mutter von Chaima Sadou in einem Video direkt an Präsident Abdelmadjid Tebboune gewendet und darin die Todesstrafe für den Täter gefordert hat, wird in Algerien über die umstrittene Strafpraxis debattiert. Zwar verhängen algerische Gerichte die Todesstrafe, doch seit 1993 wird sie nicht mehr vollstreckt. Am vergangenen Donnerstag zogen nun Algerierinnen durch die Straßen mehrerer Städte, auf ihren Plakaten standen Slogans wie "Die Zukunft ist weiblich" und "Wir träumen von einem Land, in dem Frauen, die über Vergewaltigung sprechen, mehr gehört werden als Männer, die über das Kopftuch sprechen." Das Aufgebot der Sicherheitskräfte beschreiben Demonstrantinnen als immens. Viele von ihnen forderten ein Ende der Gewalt an Frauen und die Abschaffung jeglicher Strafmilderung sowie vorzeitiger Haftentlassung in solchen Fällen.

Der grausige Mord an Chaima Sadou geschieht zu einer Zeit, in der auch in den anderen Maghrebstaaten über die Todesstrafe debattiert wird. Im September erschütterte der Fall des elfjährigen Adnan, der von seinen Eltern zur Apotheke geschickt wurde und nicht mehr zurückkehrte, die marokkanische Gesellschaft. Der Junge wurde von einem 24-jährigen Industriearbeiter in Tanger entführt, vergewaltigt und getötet. In einer Online-Petition und in sozialen Netzwerken forderten zahlreiche Marokkaner die Todesstrafe für den Täter. Diese wird auch in Marokko verhängt, in der Regel aber nicht vollstreckt.

Demonstrantin in Algier:

"Wir träumen von einem Land, in dem Frauen, die über Vergewaltigung sprechen, mehr gehört werden als Männer, die über das Kopftuch sprechen."

Im Nachbarland Tunesien führte der Mord an der 29-jährigen Rahma Lahmar sogar dazu, dass sich Präsident Kais Saied für die Rückkehr zur Todesstrafe aussprach. Der parteilose Juraprofessor hatte bereits zu Beginn seiner Amtszeit vor einem Jahr dafür geworben. Bisher ist die Todesstrafe in Tunesien nicht abgeschafft, sie wird aber seit 1991 nicht angewandt. Für seine Position erntete Saied angesichts landesweiter Zunahme solcher Fälle viel Zustimmung, jedoch auch Kritik von Menschenrechtsgruppen.

Laut einer algerischen Organisation, die Femizide im Land erfasst, wurden seit Jahresbeginn 38 Frauen aufgrund ihres Geschlechts getötet. Vergangenes Jahr waren es 60. Die Organisation geht davon aus, dass die wahre Zahl sehr viel höher liegt, denn viele solcher Morde werden gar nicht gemeldet. Der Fall Chaima Sadous könnte nun ein weiterer Grund dafür werden.

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