Christian Schneider ist zertifizierter Sachverständiger für Zufahrtschutz im Sachverständigenbüro Initiative Breitscheidplatz GmbH. Der 55-Jährige kritisiert, dass die Zufahrtschutzmaßnahmen in Magdeburg nicht den allgemein anerkannten Regeln der Technik entsprachen. Doch was bedeutet das konkret, und wie können Weihnachtsmärkte und andere öffentliche Veranstaltungen überhaupt richtig gegen solche Anschläge gesichert werden?
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SZ: Herr Schneider, Sie sind immer gefragt, wenn Schreckliches passiert und ein Attentäter mit einem Fahrzeug in eine Menschenmenge rast. Aber was heißt das überhaupt, Zufahrtschutz?
Christian Schneider: Das bedeutet nichts anderes, als dass Angriffe mit Fahrzeugen auf Orte wie Weihnachtsmärkte technisch vereitelt werden sollen. Dabei ist der Schutz kein Produkt, sondern das Ergebnis eines normativ vorgegebenen Prozesses. Dieser Prozess beginnt mit einer Analyse: Wenn man weiß, was die Gefahr ist und wie verwundbar der Ort ist, kann man die entsprechenden Gegenmaßnahmen definieren. Kurz gesagt: Man will die Guten schützen und die Bösen aussperren, ohne dabei die Retter zu behindern.
Wie sieht das konkret aus?
Dazu dienen drei Maßnahmen: Tempo rausnehmen, Abwehr sicherstellen, Gefahrenbereiche visualisieren. Das heißt, zuerst gibt es die vorgelagerten Maßnahmen, um zu verhindern, dass ein Auto mit hoher Geschwindigkeit in die eigentlichen Abwehrmaßnahmen einschlagen kann. Dabei wird das Fahrzeug durch eine Schikane auf der Straße, wie etwa Hochbeete oder Stadtmobiliar, zum Abbremsen gebracht. Danach folgen die eigentlichen Abwehrmaßnahmen wie etwa Poller oder Hochbeete damit das Angriffsfahrzeug nicht in die Schutzzone einfahren kann. Und dann muss man den dahinter entstehenden Gefahrenbereich bemessen und visualisieren, um zu verhindern, dass dieser bei Veranstaltungen bespielt wird. Denn nach einem Aufprall könnten Trümmer- und Ladungsteile des Fahrzeuges durch die Gegend fliegen. Immer mitdenken muss man dabei die berechtigten und besonders zu schützenden Zufahrten. Das heißt, autorisierte Verkehre für Rettungskräfte oder Anlieferung müssen ermöglicht werden.
Das klingt eigentlich plausibel und einfach.
Und genau darin liegt die Gefahr. In der Trivialisierung von Expertise! Fachplaner für Zufahrtschutz ist in Deutschland keine geschützte Berufsbezeichnung. Das darf jeder von sich behaupten, auch ohne dafür eine fundierte Ausbildung, Examen und Zulassung nachzuweisen. Das geht hierzulande sogar so weit, dass Leute ohne entsprechende Expertise und Berechtigung kostenpflichtige Seminare anbieten und Zufahrtschutz-Zertifikate ausstellen, die zu schrecklichen Folgen führen können. Dazu kommt das fatale Missverständnis, dass Zufahrtschutz und Veranstaltungssicherheit irgendwie das Gleiche seien. Das stimmt aber nicht! Das sind zwei völlig verschiedene Dinge und müssen getrennt voneinander betrachtet werden. Während wir vom Zufahrtschutz Örtlichkeiten, wie Marktplätze oder Fußgängerzonen gegen von außen einwirkende Vorsatztaten schützen, kümmern sich die Kollegen um die Sicherheit innerhalb des Veranstaltungsortes. Schutz ist nicht dasselbe wie Sicherheit, das darf man auch bitte nicht verwechseln. Viele denken wahrscheinlich, sie können beides – und das ist der fatale Irrtum. In Fällen wie Magdeburg könnte das zu Fehlern mit tödlichen Folgen geführt haben.
Wie kommen Sie darauf? Hätte ein besserer Schutz den Anschlag verhindern können?
Ja, das wäre möglich gewesen. Was den Zufahrtschutz angeht, so war der Weihnachtsmarkt offensichtlich nicht nach den gültigen technischen Regeln und Normen geschützt. Die Normen sagen: Wenn man einen Ort schützt, muss man einen bestimmten Prozess durchlaufen. Man muss im Team Analysen und Berechnungen anstellen, man muss Schutzmaßnahmen auswählen, diese dann ordnungsgemäß aufstellen oder montieren und zum Schluss durch eine Funktionsprüfung abnehmen. Das macht man nicht so einfach nebenbei. Und derjenige, der das macht, muss dafür qualifiziert und zugelassen sein. Hier gilt der eherne Grundsatz: „Mach es richtig oder gar nicht.“
Ist das nicht immer der Fall?
In vielen Fällen habe ich jedenfalls den Eindruck, dass die Verantwortlichen dem oben geschilderten Irrtum aufgesessen sind. Durch eine unreflektierte Entscheidung, Zufahrtschutz mit Veranstaltungssicherheit zu vermischen, werden überall im Land Besucher von Veranstaltungen gefährdet. Wenn man sich den Weihnachtsmarkt in Magdeburg ansieht, dann sind da viele Betonklötze drum herum zu sehen. Die Zuständigen irren sich aber, wenn sie denken, dass diese gut schützen. Genau das Gegenteil ist der Fall. Wenn beispielsweise ein Lkw in einen Betonklotz rast, dann wird dieser durch die Wucht des Aufpralls in die Menschenmenge hinein katapultiert. Beim Anschlag auf den Berliner Breitscheidplatz 2016 wäre ein solcher Betonklotz mehr als 150 Meter weit über den Platz geschlittert und hätte viele Menschen treffen können.
Kann man Weihnachtsmärkte überhaupt zu 100 Prozent absichern?
Es kommt darauf an, wie man die Frage definiert. Wenn Sie fragen, ob ich einen Weihnachtsmarkt zu 99,99 Prozent vor einem Fahrzeuganschlag schützen kann, dann sage ich ja. Wenn Sie aber fragen, ob man ihn gegen alle Gefahren schützen kann, dann muss ich sagen, dass ich das erst dann weiß, wenn ich alle Gefahren kenne und bewertet habe. Ziemlich sicher weiß ich nur eines: Fahrzeuge sind eine hocheffektive Angriffswaffe, und das nächste Straßenfest, das nächste Frühlingsfest und der nächste Weihnachtsmarkt werden kommen – und dafür brauchen wir als Gesellschaft sichere Konzepte zum Zufahrtschutz, um weitere Tragödien zu verhindern.