Wo ist Andry Rajoelina, Madagaskars Präsident? Das war am Montag die wohl meistdiskutierte Frage in dem Inselstaat vor Afrikas südöstlicher Küste. Rajoelina, behaupteten die einen, verschanze sich in einem Bunker in der Hauptstadt Antananarivo. Der Präsident, wollten andere aus sicherer Quelle erfahren haben, sei geflohen. Aus dem Präsidialamt gab es statt einer offiziellen Antwort auf diese Gerüchte zunächst nur eine Ankündigung: Rajoelina werde am Abend eine Rede an die Nation halten. War er also doch noch im Land?
Am späten Nachmittag dann endete das Rätselraten. Die Nachrichtenagentur Reuters berichtete, dass Rajoelina – der neben der madagassischen auch die französische Staatsbürgerschaft besitzt – Madagaskar tatsächlich verlassen habe. Und zwar schon am Sonntag, an Bord eines französischen Militärflugzeugs. Rajoelina, hieß es, habe einen Deal mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron geschlossen. Wo er sich zu diesem Zeitpunkt aufhielt, das wusste allerdings auch Reuters nicht zu berichten. Dubai wird immer wieder als mögliches Ziel genannt, doch bestätigt ist das nicht.

Aktuelles Lexikon:Madagaskar
Die viertgrößte Insel der Welt schafft es eher selten in die Nachrichten. Außer es wird wieder mal politisch unruhig, so wie jetzt gerade.
Die Nachricht von Rajoelinas Flucht ist das vorläufige Finale dreier turbulenter Wochen für Madagaskar. Begonnen hatte es Ende September mit landesweiten Protesten gegen die Regierung. Am Samstag dann hatten sich Teile der Armee diesen Protesten angeschlossen. Viele Beobachter werteten das als Putsch. Und auch das Präsidialamt sprach am Sonntag in einer Mitteilung vom „Versuch einer illegalen und gewaltsamen Machtübernahme“.
Drei Viertel der Bevölkerung leben in Armut
Die Proteste gegen Rajoelina wären aus Sicht der Regierung wohl durchaus vermeidbar gewesen. Ausgelöst wurden sie durch die Verhaftung zweier Lokalpolitiker, die wegen wiederholter Stromausfälle und schlechter Wasserversorgung in der Hauptstadt protestieren wollten. Das harte Vorgehen des Staates ließ den Protest erst recht anschwellen und führte zu den größten Demonstrationen in Madagaskar seit Jahren. Vor allem junge Leute aus der sogenannten Generation Z gingen zu Tausenden auf die Straße, um den Rücktritt des Präsidenten zu fordern.
In Madagaskar wiederholt sich damit ein Szenario, das aus vielen Entwicklungsländern in Südamerika, Asien und vor allem Afrika bekannt ist: Die jungen, urbanen Menschen begehren auf gegen ihre Regierungen, die ihnen aus ihrer Sicht keine Perspektiven bieten können. So wie jüngst in Marokko oder Nepal, so wie zuletzt in Mosambik, Kenia, Nigeria oder Senegal. In Madagaskar leben laut Angaben der Weltbank drei Viertel der 32 Millionen Menschen in Armut, vor allem in den Städten sei die Quote in den vergangenen Jahren „auf alarmierende Weise“ gestiegen.
Über Jahrzehnte, sagt Ketakandriana Rafitoson, die für Transparency International in Antananarivo arbeitet, habe sich in Madagaskar das gleiche Muster wiederholt: „Unzufriedenheit wächst, Proteste brechen aus, Versprechungen werden gemacht, und dann ändert sich nichts Grundlegendes.“ Doch dieses Mal sei es anders, glaubt sie. „Die aktuelle Welle der Unruhen, die von einer Generation ausgelöst wird, die nur mit Armut, Korruption und institutionellem Verfall aufgewachsen ist, könnte ein Zeichen dafür sein, dass das Land einen Wendepunkt erreicht hat.“
Die Karriere von Rajoelina – vom DJ zum Präsidenten
Die Regierung reagierte zunächst mit Härte auf die Demonstrationen. Mindestens 22 Menschen wurden nach Angaben der Vereinten Nationen allein in den ersten Tagen der Proteste von den Sicherheitsbehörden getötet. Später versuchte Rajoelina, der Protestbewegung entgegenzukommen und sich den in Madagaskar so wichtigen Rückhalt in der Armee zu sichern. Er löste die Regierung auf und ernannte am 6. Oktober einen General zum neuen Premierminister; wenige Tage später kündigte er an zurückzutreten, sollte es ihm nicht gelingen, innerhalb eines Jahres die Stromversorgung im Land zu sichern. Doch die Proteste konnte er so nicht beenden.
Am Wochenende spitzte sich die Lage für Rajoelina dramatisch zu. Offiziere der Eliteeinheit Capsat erklärten am Samstag, nicht länger im Auftrag der Regierung gegen die Proteste vorgehen zu wollen; in den sozialen Medien machten Videos von Soldaten die Runde, die sich den Demonstranten anschlossen. Am Sonntag dann verkündete Capsat, man habe die Kontrolle über alle Streitkräfte des Landes übernommen und einen neuen Armeechef ernannt. Auch eine Einheit der Gendarmerie teilte mit, den Anweisungen der Regierung nicht länger Folge leisten zu wollen.
Wie bedrohlich die Meuterei vor allem von Capsat ist, weiß niemand besser als Präsident Rajoelina. 2009, als Madagaskar ebenfalls von massiven Unruhen erschüttert wurde und am Rande eines Bürgerkriegs stand, stürzte die Eliteeinheit den damaligen Präsidenten des Landes – und übertrug die Macht auf Andry Rajoelina. Der war damals 34 Jahre alt und hatte sich nach einer ersten Karriere als DJ zum politischen Hoffnungsträger vor allem der armen und jungen Menschen gegen die korrupte Elite in Madagaskar hochgearbeitet. Sein Spitzname, aufgrund seines Alters und seines Elans: TGV, wie der französische Schnellzug.
Dass der Hoffnungsträger von einst zum Feindbild von heute wird: Auch das ist ein in Afrika bekanntes Muster, wie zuletzt Kenias Präsident erfahren musste.
Für die Protestbewegung ist die Unterstützung durch die Elitesoldaten ein großer Erfolg. Auch deshalb gelang es den Demonstranten am Wochenende erstmals, symbolisch wichtige Plätze in Antananarivo wie den Platz des 13. Mai zu besetzen. Doch zugleich liegt darin auch eine Gefahr, wie Ketakandriana Rafitoson von Transparency International warnt. Das Überlaufen von Capsat, sagt sie, „verschafft den Demonstranten physischen Raum und politischen Schutz, birgt aber auch die Gefahr einer Militarisierung des politischen Übergangs, sollten die Ambitionen des Kommandos größer werden“.
Anders gesagt: Die Frage ist nun, ob Capsat sich weiterhin als Geburtshelfer eines Übergangs versteht – oder ob die Einheit diesen Übergang selbst in die Hand nehmen will.
Zunächst aber gilt es, eine andere Frage zu klären: Was macht Noch-Präsident Rajoelina? Tritt er zurück? Wird er versuchen, seine Präsidentschaft doch noch zu retten? Die größte Oppositionspartei TIM kündigte am Montagabend gegenüber der britischen BBC an, ein Amtsenthebungsverfahren gegen Rajoelina einzuleiten, wegen „Aufgabe seines Postens“. An der Spitze von TIM steht Ex-Präsident Marc Ravalomana – jener Mann also, den Rajoelina 2009 von der Macht verdrängt hatte.

