Was in den vergangenen drei Wochen in Madagaskar passiert ist, sagt Olivia Rasetison, das könne sie immer noch nicht wirklich glauben. „Es ging alles so schnell.“ Am 25. September, erzählt die 29-Jährige am Telefon in der Hauptstadt Antananarivo, sei sie zum ersten Mal auf die Straße gegangen, um mit Tausenden anderen jungen Leuten gegen die Regierung zu demonstrieren. Und nun ist diese Regierung tatsächlich Geschichte, Präsident Andry Rajoelina geflohen und entmachtet. „Darüber bin ich sehr glücklich“, sagt die junge Frau.
Weniger glücklich ist sie allerdings darüber, wer das Machtvakuum in Madagaskar inzwischen gefüllt hat: Oberst Michael Randrianirina, der Chef der Eliteeinheit Capsat, die sich am Wochenende auf die Seite der Demonstranten geschlagen und deren wochenlanges Duell mit dem Präsidenten damit entschieden hatte. Er ist der neue starke Mann in dem Inselstaat vor Afrikas Südostküste, am Freitag soll er als Präsident vereidigt werden. Olivia Rasetison sagt: „Das ist sicher nicht das beste Szenario.“
Der Staat kann die grundlegenden Bedürfnisse der Menschen nicht decken
Die Protestbewegung in Madagaskar, überwiegend getragen von jungen Leuten aus der sogenannten Generation Z, befindet sich in einer seltsamen Lage. Sie hat ihre Regierung herausgefordert und gewonnen, was ein großer und weltweit beachteter Erfolg ist. Doch zugleich muss sie befürchten, dass ihre neuen Freunde vom Militär ihr diesen Erfolg gerade aus der Hand reißen. Die Frage ist: Werden die Soldaten die Macht teilen und nach spätestens zwei Jahren wieder abgeben, wie sie beteuern? Oder endet der Aufstand der madagassischen Jugend in einer Militärherrschaft?
Olivia Rasetison arbeitet für eine NGO; für welche, will sie nicht verraten. An den Protesten habe sie als Privatperson teilgenommen, als Privatperson engagiere sie sich nun in der Bewegung. Mit ihrer Arbeit habe das nichts zu tun.
Zunächst, sagt sie, seien die Proteste unpolitisch gewesen. Sie und ihre Freunde seien auf die Straße gegangen, weil die Regierung in Madagaskar, einem der ärmsten Länder der Welt, nicht mal die grundlegenden Bedürfnisse der Menschen im Land habe bedienen können. Der Strom falle in ihrer Wohnung mindestens sechs Stunden am Tag aus, das Wasser komme nur nachts für ein paar Stunden aus der Leitung. Jede Nacht stehe sie um zwei Uhr auf, fülle ihre Kanister für den nächsten Tag, bis kein Wasser mehr kommt, und lege sich wieder schlafen.
Der Präsident versucht es mit Tränengas und Schlagstöcken – und scheiterte
„Am Anfang wollten wir nur gehört werden“, sagt Rasetison. Doch die Proteste richteten sich bald grundsätzlich gegen die Regierung, auch weil diese mit großer Härte reagierte, mit Tränengas, Schlagstöcken und Schusswaffen. 22 Menschen wurden nach UN-Angaben in den ersten Tagen der Proteste getötet. Alle Versuche des Präsidenten, die Wut der Straße nach der Gewalteskalation noch zu besänftigen, scheiterten.
Sein politisches Schicksal besiegelte schließlich die Meuterei der Eliteeinheit Capsat, die am Samstag zu den Demonstranten überlief. Einen Tag später floh Präsident Rajoelina, an einen „sicheren Ort“, wie er in einer Facebook-Ansprache am Montagabend mitteilte. Er soll sich in Dubai aufhalten. Übereinstimmenden Medienberichten zufolge war es ein französisches Militärflugzeug, das ihn am Tag zuvor außer Landes gebracht hatte. Rajoelina hat neben dem madagassischen auch einen französischen Pass.
Es war eine Flucht wie aus der Ära des Kalten Krieges. Und ein Abgang, der innerhalb der Protestbewegung ein antifranzösisches Element stärkte, das bis dato keine große Rolle gespielt hatte, vor allem, wenn man es mit den Umstürzen in Niger oder Mali in den vergangenen Jahren vergleicht. Einen maßgeblichen Anteil daran hat Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Der bezeichnete die Vorgänge in Madagaskar als „zutiefst besorgniserregend“ und warnte vor „ausländischer Einflussnahme“, während viele Menschen im Land Frankreichs Fluchthilfe für den ungeliebten Präsidenten Rajoelina als genau das empfanden: als ausländische Einflussnahme.„In diesem Moment“, sagt Olivia Rasetison, „haben die Menschen ihren Zorn auch nach Frankreich gerichtet.“
Ein völlig unbekannter Oberst ist jetzt am Ruder
Die Machtübernahme des Militärs nahm dann am Dienstag Gestalt an. Vor dem Präsidentenpalast in Antananarivo verkündete der bis dahin völlig unbekannte Oberst Randrianirina, dass es keine Regierung mehr gebe in Madagaskar. Und er fragte, ob er und die Armee die Kontrolle übernehmen und das Chaos beenden sollten. Die Antwort aus der Menge war Jubel. Olivia Rasetison war an diesem Tag ebenfalls dabei. Doch sie jubelte nicht mit. „Erst in diesem Moment“, sagt sie, „wurde mir klar, dass die Militärs die Macht übernehmen wollen.“
Madagaskars Verfassungsgericht hat Randrianirina inzwischen an der Spitze des Staates bestätigt, auch wenn der gestürzte Präsident Rajoelina noch immer nicht seinen Rücktritt erklärt hat. Der Oberst gibt sich in Interviews und bei Auftritten bescheiden und bezeichnet sich als Diener des Volkes. Die Protestbewegung will er an der Regierung beteiligen, binnen zwei Jahren soll es Wahlen geben. Doch ähnliche Versprechungen von plötzlich herrschenden Militärs sind, nicht nur in Afrika, in der Vergangenheit schon häufig gebrochen worden.
Das befürchtet auch Olivia Rasetison: „Ich vertraue den Militärs nicht vollständig“, sagt sie. Sie mache sich Sorgen, dass diese nach zwei Jahren nicht wie versprochen Wahlen zulassen. Doch sie sagt auch, dass sie die neuen Machthaber immer noch besser findet als die alten – und ihnen eher zutraut, ihr Leben und das ihrer Generation zum Besseren zu verändern. „Unter Präsident Rajoelina hatte ich null Prozent Hoffnung. Nun sind es immerhin 20 Prozent.“
Für sie und für die gesamte Protestbewegung bedeute die Machtübernahme des Militärs, dass der Kampf nicht vorbei sei, sagt Rasetison. Die jungen Leute müssten weiter ihre Stimme erheben, weiter für ihre Rechte kämpfen, weiter sichergehen, dass sie nicht überhört werden – mit dem Unterschied, dass ihr Gegenüber nun nicht mehr Präsident Rajoelina heißt, sondern Oberst Randrianirina. Für die nächsten zwei Jahre und vielleicht darüber hinaus.

