Deutsch-französische Freundschaft:Warum die Franzosen immer wieder an Merkel abprallen

Deutsch-französische Freundschaft: Ein Bild aus dem Jahr 2017: François Hollande mit Angela Merkel im Vordergrund, hinten der Spanier Mariano Rajoy (rechts) und der Italiener Paolo Gentiloni.

Ein Bild aus dem Jahr 2017: François Hollande mit Angela Merkel im Vordergrund, hinten der Spanier Mariano Rajoy (rechts) und der Italiener Paolo Gentiloni.

(Foto: AP)

Chirac, Sarkozy, Hollande und Macron - die Bundeskanzlerin hat mit vier französischen Präsidenten eng zusammengearbeitet. Und sie hat dabei gezeigt, dass Pragmatismus wirkungsvoller sein kann als große Gesten.

Von Stefan Braun, Berlin

Vielleicht ist das so, wenn man immer wieder recht behält. Wenn man vor zu großen Versprechungen warnt und dann bestätigt wird. So wie Angela Merkel. Seit die CDU-Politikerin Deutschland regiert, ist sie skeptisch gewesen beim Blick auf Politiker, die die große Geste wählten. Ob es der charismatische Amerikaner Barack Obama war, der forsche Franzose Nicolas Sarkozy oder der jung-dynamische Italiener Matteo Renzi - stets bestaunte Merkel deren rhetorische Wucht und hielt sich fern von deren Pathos. Je leidenschaftlicher die Herren in ihre Trompeten stießen, desto leiser wurde Merkel. Das große Getrommel ist nie ihre Sache geworden.

Und heute? Ist von den Herren mit den besonders großen Symbolen und Gesten nicht mehr viel zu sehen. Merkel aber ist geblieben, führt immer noch Regie in der deutschen Regierung. Ihre großen politischen Leidenschaften gibt sie selten zu erkennen. Stattdessen zelebriert sie ihren Pragmatismus. Und deshalb gibt Merkel dem Drängen französischer Präsidenten nach mehr Symbolen und mehr großer Geste bis heute nicht nach.

Selbst an diesem Dienstag, wenn sie und Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron in Aachen den Aachener Vertrag unterzeichnen, bleibt offen, wie wichtig ihr Frankreich wirklich ist. Es bleibt weitgehend unbeantwortet, für wie notwendig sie einen neuen Anlauf für Europa hält. Und es bleibt unklar, mit wie viel Leidenschaft sie im Jahr der Europawahl fürs Deutsch-Französische kämpfen möchte, um damit auch Europa neue Kraft zu verleihen. Merkel wird ihre Unterschrift unter den Vertrag setzen - und trotzdem wird es auf all das keine umfassenden Antworten geben.

Ein "Deutschland liebt Euch" würde Merkel kaum über die Lippen kommen

In Paris, so ist von vielen französischen Diplomaten zu hören, ist der Frust groß, weil trotz leidenschaftlicher Botschaften der Franzosen keine Leidenschaft zurückkommt. Als Macron jüngst im Bundestag sprach, sagte er, die Deutschen würden vielleicht nicht jedes Wort und jede Botschaft der Franzosen verstehen. Eines aber sollten sie nie vergessen: "Frankreich liebt euch."

Nimmt man aktuelle Umfragen der Franzosen, scheint da viel dran zu sein. Das gilt zuallererst für Merkel, die Regierungschefin. Kaum ein Politiker, kaum eine Politikerin ist im Nachbarland derart beliebt wie die Kanzlerin. Doch statt daraus einen Trumpf zu machen und ihrem oft beschworenen Partner Macron Ähnliches zurückgeben, fehlen bis heute Merkels Antworten auf Macrons Werben für mehr Europa. Und ein "Deutschland liebt euch" würde Merkel sowieso kaum über die Lippen kommen.

Um der französischen Enttäuschung entgegenzuwirken, wird im Kanzleramt darauf verwiesen, dass im Aachener Vertrag viel Gutes stehe. Das sei doch nicht nichts, sondern an vielen Stellen ein Ausbau der sowieso guten Beziehungen. Und dann erklären vor allem die Mitarbeiter der Kanzlerin, dass es einen gemeinsamen Sicherheitsrat, einen gemeinsamen Wirtschaftsrat, eine gemeinsame Zukunftswerkstatt und überhaupt viel mehr Kooperation geben würde.

Und schaut man auf die politische Überlebensfähigkeit der Konzepte (und das ist für Merkel das entscheidende), dann hat die Geschichte ihr bis heute freilich Recht gegeben. Mit ihrer ruhigen, nachdenklichen, unaufgeregten Art ist sie immer noch da, während Obama, Sarkozy oder Renzi nicht nur nicht mehr im Amt sind, sondern in der Gunst der Leute beschädigt ausschieden.

Nicht viel anders ist es mit den übrigen französischen Präsidenten, die Merkel als Kanzlerin erlebt hat. Ob Jacques Chirac oder François Hollande - beide liebten auf je eigene Weise die pathetischen Auftritte und konnten damit doch nicht groß punkten. Selbst für Macron, den dynamischen Pro-Europäer, ist der Ausgang seiner politischen Geschichte derzeit komplett offen.

Chirac war schon zu Beginn von Merkels Amtszeit eine Art alternder Fürst in der Nachbarschaft; als die Kanzlerin Ende 2005 ins Amt kam, war klar, dass Chirac bald Geschichte sein würde. Er war zu nah an seinem politischen Abschied und Merkel war zu frisch im neuen Amt, damit beide gemeinsam Neues, gar Größeres hätten entwerfen können. Hängen blieb deshalb vor allem, dass er vom ersten Handkuss bis zum letzten Abendessen ein Meister der Zeremonie blieb, während sie Schritt für Schritt ihren Pragmatismus etablierte.

Danach kam Sarkozy - und mit ihm das vielleicht verrückteste Paar der deutsch-französischen Nachkriegsgeschichte. Die SZ schrieb 2012 über die fünf Jahre: "Merkel und Sarkozy - das sind zwei unterschiedliche Charaktere, und es sind zwei sehr sehr sehr unterschiedliche Temperamente. Die nüchterne Kanzlerin und der ungestüme Präsident. Die schwerblütige Merkel und der hibbelige Sarkozy."

Ist Merkels Pragmatismus heute zu wenig?

Ins Amt gekommen war er mit großer Wucht, noch größeren Forderungen und riesigem Selbstbewusstsein. Sein Land wollte er reformieren, Europa wollte er flott machen. Am Ende aber hatte die Merkelsche Nüchternheit ihm nicht nur den Zahn gezogen, sondern auch die Kritik eingebracht, er habe sich von der deutschen Kanzlerin zu sehr einwickeln lassen.

Im Inhalt ganz anders und im Gestus doch wieder sehr ähnlich verliefen Merkels fünf Jahre an der Seite des Sozialisten François Hollande. Auch der war mit Elan gestartet, hatte seinem Land mehr soziale Politik versprochen. Ja, als Rache für Merkels Wahlkampfunterstützung für Sarkozy suchte er erste Erfolge hinter dem Rücken der Deutschen. Und dann? Liefen auch seine ersten Worte und Auftritte ins Leere, weil er vor allem in der Innen- und der Wirtschaftspolitik das Versprochene nicht einhalten konnte.

Ja, im Verhältnis zu Hollande endete das Ganze fast im Mitleid. Denn während der Franzose angesichts mangelnder politischer Erfolge rasant an Rückhalt verlor, traf der Terror das Land in ungeahnter Weise. Und mittendrin ein Präsident, der sich in schwerster Stunde um Zusammenhalt und Würde und außerdem um mehr Sicherheit für die Franzosen bemühte. So kompliziert das Verhältnis von Merkel zu Hollande in vielen inhaltlichen Fragen war - so innig wurde es auf der menschlichen Ebene, als der Terror Frankreich beutelte und die Kanzlerin Hollande der deutschen Solidarität versicherte.

In der Bilanz freilich blieb für Merkel alles beim Alten: Pragmatismus ist gut; große Gesten laufen ins Leere. Und wer Gutes erreichen will, soll keine mächtigen Worte wählen, sondern nüchtern die Probleme abarbeiten.

Genau darin aber könnte jetzt auch eine Gefahr stecken: die Gefahr, dass sie den Schalter, selbst wenn es nötig wird, nicht mehr umlegen kann. Niemand hat das in den vergangenen anderthalb Jahren derart hart zu spüren bekommen wie Macron. So jedenfalls erleben es viele seiner engsten Mitstreiter. Kein anderer EU-Regierungschef hat so um Merkel geworben und wollte sie so sehr für einen neuen Aufbruch gewinnen; und keiner ist bislang so sehr an Merkel abgeprallt.

Angesichts dessen ist man in Berlin und Paris an diesem Dienstag schon froh, dass beide mit dem neuen, zweiten Élysée-Vertrag immerhin das Versprechen abgeben, das in den vergangenen Jahrzehnten Errungene auszubauen. Ob das reicht in Zeiten, in denen überall in Europa nationale Kräfte am Fundament der EU sägen, kann und will derzeit niemand versprechen. Aber diesseits wie jenseits des Rheins wächst die Angst, so ein Berliner Diplomat vor wenigen Tagen, dass "der lange so erfolgreiche Merkel'sche Pragmatismus zu wenig sein könnte, um Europas Gegner innerhalb der EU klein zu halten."

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