Macrons Brief an die Europäer:Wer die EU will, will mich

Macrons Brief an die Europäer: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron

(Foto: AFP)

Macrons Brief enthält nicht nur Reform-Ideen, sondern auch eine ordentliche Portion Größenfantasie. Für seine Bewunderer ist dieses Sendungsbewusstsein verlockend. Aber die beste Reaktion darauf dürfte Gelassenheit sein.

Kommentar von Nadia Pantel, Paris

Französische Politiker, die etwas erreichen wollen, unterscheiden sich grundsätzlich von deutschen Politikern, die etwas erreichen wollen. Worin dieser Unterschied besteht, lässt sich gut nachvollziehen, wenn man sich vorstellt, Angela Merkel und Emmanuel Macron müssten jeweils einen Sack Mehl von A nach B bewegen. Die deutsche Kanzlerin würde mit stetiger, mittlerer Kraftanstrengung losschieben, so wie es in der Rückenschule empfohlen wird. Der französische Präsident würde zu dem einen Sack noch vier weitere dazustapeln und dann eine originelle Wurftechnik entwickeln, bei der besonders viel Mehlstaub aufwirbelt.

Ein eindrückliches Beispiel dieser französischen Jonglage-Kunst stellt nun Macrons Brief an die Europäer dar. Gleichzeitig in 28 Ländern veröffentlicht, in 22 Sprachen übersetzt, unterschrieben einfach mit "Emmanuel Macron". Als wäre er nicht der französische Präsident, sondern ein gesamteuropäischer Visionär, dem die Massen aller Länder folgen. Dieser Brief wird nicht nur von konkreten Ideen für europäische Reformen getragen, sondern auch von einer ordentlichen Portion Größenfantasie.

Nur steht dahinter kein Realitätsverlust, sondern eine Strategie, die in der französischen Politik immer wieder zum Erfolg führt. Wenn man sich noch einmal die Mehlsäcke vergegenwärtigt, sind die deutsche und die französische Zielvorgabe ähnlich: Ein Sack soll Punkt B erreichen. In Deutschland reicht die Fantasie dann genau für diese Handlung, in Frankreich wird die Aufgabe so weit vergrößert, dass am Ende sicher ist, dass wenigstens die Minimalvorgabe erfüllt wurde.

Macron will auch jenseits von Frankreich eine Anziehungskraft entwickeln

Nur was ist in diesem Fall die Minimalvorgabe? Macron hat in den kommenden Monaten zwei Ziele: Er will seine rechtsradikale Widersacherin Marine Le Pen in der Europawahl besiegen, und er will im Europaparlament mit seiner Partei La République en Marche Teil einer möglichst mächtigen Fraktion werden. Für ersteres Ziel ist der Brief nützlich, weil er Macron breitbeinig in der Mitte Europas platziert. Frankreichs Präsident war bisher bei seinen Wählern dann besonders beliebt, wenn er sich als internationaler Lenker inszenierte und den Franzosen das Gefühl gab, dass die Welt auf Weisungen aus Paris wartet. Indem er nun 28 Zeitungen gleichzeitig dazu bewegt hat, ihm ihre Seiten freizuräumen, demonstriert er einen Machtanspruch, mit dem sich viele seiner Landsleute identifizieren können. Gleichzeitig sagt er: Dieses internationale Netzwerk, diesen Respekt der anderen Länder, den büßt ihr ein, wenn ihr Le Pen wählt.

Indem er den Brief gleichzeitig auf Deutsch, Englisch, Finnisch, Rumänisch, Polnisch und so weiter veröffentlicht, bietet er außerdem potenziellen europäischen Verbündeten das Label Macron an. In ganz Europa beginnt nun die Phase des Wahlkampfs. Macron setzt darauf, dass er auch jenseits von Frankreich eine Anziehungskraft entwickelt, die Politiker dazu bringt, sich ihren Bürgern als Macron-Partner zur Wahl zu stellen. Das Ergebnis: Eine starke Macron-Fraktion im Europaparlament, die ihn auch innenpolitisch absichert.

Frankreichs Präsident hat die Krise für sich zur Chance umgedeutet

Die Frage ist, inwiefern sein großeuropäischer Auftritt ihn diesen Zielen näherbringt. Macron versucht nun bald schon seit einem Jahr, die Dynamik, die ihn in Frankreich in den Élysée-Palast brachte, auf Europa zu übertragen. Dazu startete er die sogenannten "consultations citoyennes", den europäischen Bürgerdialog. Seine Mitstreiter und er setzten sich auf Podien und in Hörsäle, sie "sprechen über Europa". Innenpolitisch bedeutete das: Die Partei La République en Marche filterte aus den Bürgergesprächen heraus, welche Themen und Schlagworte sich besonders gut für den Wahlkampf eignen. Wie erfolgreich dieses Manöver war, wird sich in den kommenden Wochen zeigen. Europaweit muss man den Bürgerdialog unter gescheitert verbuchen. Wenn eine aus Frankreich kommende Bewegung in den vergangenen Monaten Anhänger fand, dann die Proteste der Gelbwesten und nicht die Fans von Macron.

Der große Brief ist nun eine Spur weniger subtil als die Bürgerdialoge. Macron gibt nicht mehr vor, den Bürgern zuhören zu wollen, er verkündet seine Überzeugungen. Auch wenn weiterhin Zehntausende Gelbwesten auf die Straße gehen, Macrons Popularität steigt seit Januar von Umfrage zu Umfrage an. Rutschten seine Beliebtheitswerte kurz vor Weihnachten bis hinunter zur 20-Prozent-Marke, sind sie inzwischen wieder nahe an den 40 Prozent. Macron ist tatsächlich das gelungen, was er den Franzosen zum Jahresende per Fernsehansprache verkündete: Er hat die Krise für sich zur Chance umgedeutet. Sein wiedergewonnenes Selbstbewusstsein spricht aus jeder Zeile dieses europäischen Briefes.

Europa funktioniert anders als Frankreich

Für Macrons Bewunderer in Brüssel, Berlin oder Warschau ist dieses Sendungsbewusstsein verlockend. Sie können sich einfach in seinen Elan einklinken. Doch dieser bequeme Weg birgt auch Gefahren. Viele Bürger in Europa wollen eine starke EU und keine Konkurrenzkämpfe zwischen nationalistischen Regierungen. Macron nimmt diesen Wunsch auf und personalisiert ihn: Wer die EU will, will mich.

Nur funktioniert Europa anders als Frankreich. Es gibt dort nicht den einen Präsidenten, der vom politischen Alltag losgelöst in seinem Palast den Zampano gibt. Der Kampf für eine friedliche europäische Gemeinschaft muss ein Werk der vielen bleiben, nicht des großen Einzelnen. Auch wenn Macron sich gerne als über den Dingen schwebender Ideengeber sieht, der allen anderen das Hirn durchlüftet: Er bleibt in erster Linie Frankreichs Präsident. Die beste Reaktion auf seinen Brief dürfte Gelassenheit sein. Schauen, welche seiner Ideen nützlich sind und sie dann vom Macron-Stempel befreien. Der EU ist nicht geholfen, wenn sie zum Prestigeprojekt eines Mannes mit größten Ambitionen wird.

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