Süddeutsche Zeitung

Macron im Bundestag:"Frankreich liebt Sie"

Der französische Präsident schmeichelt den Deutschen und beweist in seiner Bundestagsrede Mut zum Pathos. Deutschland und Frankreich dürften die Welt "nicht in Chaos stürzen lassen".

Von Nico Fried

Mit einer kleinen Geschichte von zwei Soldaten im Ersten Weltkrieg bereitet Emmanuel Macron in seiner Rede am Sonntagmittag im Deutschen Bundestag einen bewegenden Schlusspunkt vor. Es ist die Geschichte des Dichters Ernst Stadler, der im Sommer 1918 an der Front einen französischen Dichter erkannt haben soll, dessen Werke er ins Deutsche übersetzt hatte. Daraufhin schrieb er ihm eine Nachricht, offenbar auf Deutsch, die der Franzose nicht verstand. Trotzdem, so erzählt es Macron, soll er Stadler auf Französisch zurückgeschrieben haben: "Mein lieber Deutscher, ich verstehe Sie nicht, aber ich liebe Sie." Der Präsident wird den Geist dieser Geschichte am Ende seiner Ansprache in unnachahmlicher Weise in die Gegenwart übertragen.

Feierstunde zum Volkstrauertag im Bundestag. Ein wenig ist dieser Termin zwei Sonntage vor dem ersten Advent, mit dem Deutschland offiziell die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft würdigt, in den vergangenen Jahren ins Abseits geraten. Es gibt so viele Gedenktage, die sich die Deutschen in ihrer Geschichte eingebrockt haben. Doch 2018 kann Wolfgang Schneiderhan, einst Generalinspekteur der Bundeswehr und heute Präsident des Volksbundes Kriegsgräberfürsorge, als Ausrichter der Feierstunde den französischen Präsidenten begrüßen, 100 Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges. Macron sei "ein Mitstreiter" für die europäische Sache, sagt Schneiderhan, "der mit Mut und Ideen bereit ist voranzugehen".

Bevor der französische Präsident in seiner Rede vor allem mit Mut zum Pathos vorangeht, kann Schneiderhan selbst ein Projekt konkreter Erinnerungsarbeit vorstellen. Nachwuchskicker von Vereinen aus Deutschland, England, Frankreich und Belgien haben gemeinsam die Biografien von Fußballern aus ihren Klubs erforscht, die im Ersten Weltkrieg gefallen sind. Sie haben den Toten jeweils einen Brief geschrieben und deren Gräber besucht - junge Männer, die wie die Spieler heute von Erfolgen und von der Nationalmannschaft träumten, aber für ihre Länder nicht spielen, sondern nur sterben durften.

"Wir haben", sagt Linus Gechter von Hertha BSC Berlin, "in Frankreich und Belgien Friedhöfe besucht, auf denen zusammen mehr Tote liegen, als Gäste in unser Stadion passen." Und der junge Belgier Alexander Vandeperre, der heute für den FC Brügge spielt, gedenkt zweier Brüder des Lokalrivalen Cercle Brügge: "Wir werden euch stets als Freunde im Gedächtnis behalten. Tränen kennen keine Farbe."

Im Saal sitzen SPDler auf den Plätzen der Grünen, Sprecher Seibert bei den Linken

Macron verfolgt die Gedenkfeier in einem Stuhlhalbkreis ganz vorne vor dem Rednerpult. Rechts und links von ihm sitzen die Vertreter der Verfassungsorgane: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther als amtierender Bundesratspräsident, Andreas Voßkuhle, der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, und Kanzlerin Angela Merkel für die Bundesregierung. Sie blicken auf das mit roten Blumen geschmückte Präsidium des Parlaments und fünf große schwarze Kreuze. In den Reihen des Plenums sind die Parteigrenzen aufgehoben, verheißungsvolle SPD-Nachwuchskräfte wie Hubertus Heil und Sören Bartol sitzen auf Plätzen der Grünen, Regierungssprecher Steffen Seibert und Staatssekretär Peter Tauber wurden in der Links-Fraktion platziert, direkt hinter deren Chef Dietmar Bartsch.

Dann begibt sich Macron ans Rednerpult und schweigt zunächst einige Sekunden. Als er zu reden beginnt, sagt er, das Gefühl, das er empfinde, sei Dankbarkeit. Nichts, sagt er an seine deutschen Gastgeber gerichtet, habe sie verpflichtet, ausgerechnet in diesem Jahr den französischen Präsidenten einzuladen. Die Erinnerungen der Deutschen an das Ende des Ersten Weltkrieges seien schließlich "noch schmerzhafter als die französischen".

Kein Land, sagt Macron, habe seine Vergangenheit so gründlich aufgearbeitet wie Deutschland. Man habe das Land der Dichter und Denker, der Philosophen und der Ingenieure "aus den Klauen der Demagogen gerettet". Und er sei stolz, dass Frankreich auch seine Rolle dabei gespielt habe, dass beide Länder den Weg zur Aussöhnung gefunden hätten, deren bedeutendster Ausdruck die europäische Einigung sei. Heute lebe Europa vor, wozu die Menschheit imstande sei, "wenn die Freundschaft zwischen Völkern stärker ist als der kriegerische Wahn". Deutsche und Franzosen seien einem Satz Goethes gefolgt, den dieser nach dem Tod seines Sohnes August 1831 schrieb - und den Macron auf Deutsch zitiert: "Und so, über Gräber, vorwärts!"

Die EU ist nicht gemacht für die Herausforderungen von heute

Doch die Europäische Union sei nicht gemacht worden für die Herausforderungen von heute. Deshalb gelte es nun, "ein neues Kapitel aufzuschlagen". Das sei man auch denen schuldig, die in den letzten 70 Jahren an diesem Europa gearbeitet hätten. Migration, Handel, Digitalisierung, Verteidigung und auch die Währungsunion seien Bereiche, für die heutige Gesetze nicht ausreichten. Die neue deutsch-französische Verantwortung bestehe darin, Europa mit Instrumenten auszustatten, die es ihm erlaubten, souverän aufzutreten.

Europa und somit Deutschland und Frankreich als seine treibenden Kräfte hätten die Aufgabe, die Welt "nicht in Chaos stürzen zu lassen". Dabei dürfe es keine Denkverbote und keine Tabus geben. "In dieser Weltordnung bleibt unsere Stärke die Einheit, auch wenn das nicht immer Übereinstimmung bedeutet." Er kenne sehr wohl die Bedenken beiderseits des Rheins, so Macron. Die Sorgen der Franzosen, zu viel nationale Identität aufgeben zu müssen, die Sorgen der Deutschen, finanziell höhere Lasten zu tragen. Aber, so fragt Macron, hätten frühere Politiker wie Konrad Adenauer und Charles de Gaulle, Helmut Kohl und François Mitterrand nicht ganz andere Ressentiments und Widerstände zu überwinden gehabt?

Das ist der Moment, in dem Macron, dessen ungestümem Reden und ungeduldigem Drängen in Deutschland oft mit Nüchternheit und Abwarten begegnet wird, den Briefwechsel der beiden Dichtersoldaten aus dem Ersten Weltkrieg aufgreift. Auch heute sei es vielleicht manchmal so, dass man in Deutschland die Worte nicht verstehe, die aus dem Partnerland kämen. "Aber denken Sie daran: Frankreich liebt Sie."

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SZ vom 19.11.2018/clli
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