Machtverlust des Parlaments:Eine verrückte Demokratie

Die Wirtschaftskrise und der Bundestag: Er sagt nichts, er will nichts sagen, er hat nichts zu sagen. Seine Mitglieder gelten bei den Wählern als Deppen, die nicht viel können, von Wirtschaft nichts verstehen - aber zu allem fähig sind.

Heribert Prantl

Auf der Titelseite der italienischen Tageszeitung Il Secolo XIX aus Genua findet sich am Freitag eine Karikatur über die Eskapaden des Cavaliere Berlusconi: "Der Kaiser ist nackt", sagt da der eine. "Mit wem diesmal?", fragt daraufhin der andere.

Bundestag, AP

Kontrolle war gestern: Unter der Kuppel des Reichstages treffen sich die Abgeordneten des Deutschen Bundestages umd die Gesetzesvorhaben der Bundesregierung abzunicken.

(Foto: Foto: AP)

Die Italiener haben, wie man sieht, eine frivol-abgeklärte Art, mit der sexuellen Affäritis ihres alternden Regierungschefs umzugehen. In Deutschland gilt der regierende Lebemann in Rom als Exempel für die Verkommenheit der dortigen Demokratie. "Das wäre bei uns nie und nimmer möglich", heißt es sogleich, wenn hierzulande die Rede darauf kommt; und das ist zweifellos richtig.

Die Macht der Regierung

Gleichwohl ist der deutsche Blick auf Italien durchaus selbstgerecht. Tendenzen der Entdemokratisierung gibt es hierzulande nicht zu knapp; diese haben freilich sehr viel weniger Erregungspotential als in Italien.

Die deutsche Demokratie leidet, zumal seit der großen Wirtschaftskrise, an Entleerungsgefahr. Die Selbstherrlichkeit der Exekutive, also der Regierung, nimmt zu. Der Einfluss des Parlaments, des zentralen Orts der Demokratie, nimmt in unglaublicher Weise ab.

Man kann das nicht einfach, wie es gern geschieht, auf "die Globalisierung"schieben. Sicherlich führt die Globalisierung zu einem Souveränitätsverlust nationalstaatlicher Institutionen. Das Geburtstags-Symposion für Jürgen Habermas stellte sich deswegen die Frage: "Auslaufmodell Demokratie?" Die Frage mag ein wenig verwundern in einer Zeit, in der die Politik vermeintlich der Ökonomie das Heft des Handelns wieder aus der Hand genommen hat.

Aber: Es ist nicht "die Politik", die da agiert. Es ist in Deutschland allein die Regierung. Der Bundestag, der demnächst neu gewählt wird, spielt eine immer geringere Rolle. Er hat noch die Aufgabe, Kanzlerin oder Kanzler zu wählen. Dann hat er ausgespielt.

Der Bundestag schluckt - und stimmt zu bei allem, was ihm von der Bundesregierung vorgesetzt wird, so es ihm überhaupt vorgesetzt wird. Das ist auch eine Folge der großen Koalition, aber nicht nur. So war und ist es nämlich seit langer Zeit bei allen Anti-Terror-Gesetzen.

So war und ist es bei allen EU-Gesetzen und Verträgen. So war und ist es bei den Auslandseinsätzen der Bundeswehr; hier mussten Parlamentarier gar ihre Zustimmungsrechte erst einmal im Wege der Organklage beim Bundesverfassungsgericht erstreiten.

Die Ohnmacht des Parlaments

Zu konstatieren ist also ein merkwürdiger, demokratiewidriger Striptease der Legislative, der jetzt, in der Finanz- und Wirtschaftskrise, seinen Höhepunkt findet: Der Kaiser der Demokratie, der Bundestag, ist nackt.

Er sagt nichts, er will nichts sagen, er hat nichts zu sagen. Das Parlament, das einst bei Gesetzen jeden Pfennig und jeden Cent umgedreht hat, und dem jeder Gesetzentwurf mit einem eigenen Abschnitt zu den "Kosten" vorgelegt werden muss, hakt die Multi-Milliarden-Aktionen der Kanzlerin, des Finanz- und des Wirtschaftsministers ab, als handele es sich um die 23. Durchführungsverordnung zum Einkommensteuergesetz.

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Helden und Deppen

Die Verschiebung des politischen Gewichts von der ersten Gewalt auf die zweite hat in existentiellen Fragen dramatische Ausmaße gewonnen. Die wichtigsten Wirtschaftsgesetze werden, im Auftrag der Regierung, von internationalen Anwaltskanzleien verfertigt. Es wird "durchregiert".

Die Sortierung der Politiker

Die Krise ist, so heißt es, die Stunde der Exekutive; und das ist auch richtig: Die Regierung muss in Notlagen schnell und effektiv handeln. Die Flutkatastrophe von Hamburg im Jahr 1962 hat aus dem damaligen Innensenator Helmut Schmidt einen Helden gemacht. Er hat in den Tagen der Not zupackend umsichtig gehandelt, dabei nicht jedes Gesetz einhaltend. Aber die Stunde der Exekutive dauerte damals nicht, wie jetzt bei der Finanzkatastrophe, Monate oder Jahre.

Das Gefährliche an der Selbstherrlichkeit der Exekutive ist, dass dieser Stil bei der Bevölkerung ankommt. Er kommt einer Sehnsucht nach dem starken Mann und der starken Frau entgegen, der Sehnsucht nach Helden, die so tun, als würden sie den gordischen Knoten mit einem Schlag zerhauen. Die Lust auf Alexander-Politik wird optisch befriedigt von Wirtschaftsminister Guttenberg, inhaltlich von Finanzminister Steinbrück und dem Regierungsmotto: Keine Angst, wir retten euch. Demokratie ist aber nicht das Zerhauen von Knoten, sondern ein mitunter sehr mühseliges Aufdröseln, ein langes Zupfen und Ziehen.

Es entwickelt sich eine hochproblematische Sortierung der Politiker: Helden und Deppen. Da sind die wenigen Guten, nämlich die politischen Macher, die Enteigner der HRE-Bank, die milliardenschweren Walter und Gestalter, zu denen die Großmanager pilgern und um Bürgschaften betteln müssen. Diese Politiker gelten als die postdemokratischen Helden, weil sie der Wirtschaft wirklich oder vermeintlich zeigen, wo der Bartel den Most holt (und den Most dann auch noch einschenken). Diese Helden dürfen sich natürlich auch streiten, das gehört schließlich zur Heldenhaftigkeit.

Helden und Deppen

Bei den normalen Parlamentariern ist das nach landläufiger Meinung anders, bei ihnen gilt das Streiten als Indiz für Verkommenheit. Neben den wenigen politischen Stars der Exekutive stehen also die vielen vermeintlich schlechten, die normalen Politiker, die demokratisch gewählten Abgeordneten, die angeblich mediokren Arbeiter im politischen Weinberg; sie müssen mit allen Vorurteilen leben, die es über Politiker gibt: Sie gelten als Angehörige einer Kaste, die nicht viel kann, aber zu allem fähig ist und die von Wirtschaft nichts, aber von Postenwirtschaft alles versteht - von der also die Politikverdrossenheit ausgeht.

Exekutive ist danach ordentliche Politik, Legislative dagegen ist zum Abwinken. Die Retter der Betriebe sind die Guten, die Schlechten sind die, die sich darum kümmern müssen, wie die Rettung bezahlt wird. Im aktuellen Streit über eine Mehrwertsteuer-Erhöhung zeigen sich die Folgen dieser demokratiefeindlichen Arbeitsteilung: Die postdemokratischen Helden haben mit Abwrackprämien und Milliardenbürgschaften Tatkraft demonstriert. Der Bundestag, quasi der demokratische Pöbel, muss sich nun damit plagen, wie diese Tatkraft finanziert werden soll. Der Alltag der Politik, das Ringen um Kompromisse, das wichtige Kleinteilige des demokratischen Lebens, gerät ins verächtliche Abseits.

Das hat eine längere Geschichte: Seit der sogenannten Rede von Roman Herzog wird von der Notwendigkeit des großen Rucks fabuliert. Es gibt eine öffentliche Gier nach Machtworten, nach klarer Linie und Kante; Stärke in Wirtschaft und Politik zeige sich, so heißt es, darin, dass dem Boss nicht widersprochen wird. Schröder hat den Ruck in "basta" übersetzt. Die große Koalition hat dann aus dem Ruck, beim Stemmen der Milliardenpakete, ein "Hauruck" gemacht.

Auf diese Weise wurde die Demokratie verrückt. Es wird Zeit, sie wieder zurechtzurücken. Das Parlament braucht neue Kraft.

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