Süddeutsche Zeitung

Machtpolitische Verschiebungen in Berlin:Die FDP macht rüber

Joachim Gaucks Kür ist eine Bundespräsidentenwahl wie jede andere zuvor: Man kann daran ablesen, wie sich Mehrheitsverhältnisse im Bund ändern. Davor stand die Kanzlerin noch auf festem Grund, jetzt steckt sie im machtpolitischen Treibsand. Denn ihr siecher Koalitionspartner versucht sich mit allen Mitteln zu retten.

Joschka Fischer

Während Europa in der Finanzkrise versinkt und allenthalben Regierungen scheitern oder abgewählt werden, scheint Deutschland eine Insel von Prosperität und Stabilität zu sein. Angela Merkel verkörpert diese neue Stärke des alten Problemkindes in der Mitte des Kontinents, bewundert von den einen und gehasst von den anderen.

Und mitten in dieser Krise, die überall stattzufinden scheint, nur nicht in Deutschland, wird Bundespräsident Christian Wulff aufgrund von Fehlern als einstiger niedersächsischer Ministerpräsident zum Rücktritt gezwungen. Am vergangenen Sonntag, als die Katholiken im Westen und Süden Deutschlands Karneval feierten, übernahmen im fernen Berlin endgültig die Protestanten aus Ostdeutschland die Macht im Lande.

In Zukunft wird das vereinigte Deutschland einen protestantischen Pfarrer als Staatsoberhaupt haben und von einer protestantischen Pfarrerstochter regiert werden. Da die Religion im öffentlichen Leben Deutschlands (so es nicht um Muslime geht) kaum noch eine Rolle spielt, ist dies für die breitere Öffentlichkeit weniger von Belang - für die regierende Mehrheitspartei CDU und vor allem ihre bayerische Schwesterpartei CSU hingegen umso mehr.

CDU und CSU waren mit ihrer katholischen Mehrheit im Westen und Süden seit Adenauers Zeiten die Staatspartei der bundesdeutschen Nachkriegsrepublik gewesen. Und jetzt diese protestantische Doppelspitze! In den christlich-katholischen Unionsparteien wird es daher noch kräftig rumoren. Freilich ist dies nur unschön, aber nicht wirklich gefährlich für die Kanzlerin.

Wirklich gefährlich ist die Präsidentenkrise und ihre Lösung für Merkel aus einem anderen Grund. Es sind dies die machtpolitischen Kalkulationen, die den Präsidentschaftskandidaten Joachim Gauck erst möglich gemacht haben. In der Regel ist die Wahl des Bundespräsidenten keineswegs eine Angelegenheit minderen machtpolitischen Ranges, im Gegenteil, sie war in der Geschichte der Bundesrepublik zumeist hoch politisch. Denn bei dieser Wahl wurden die Verschiebungen der Mehrheiten im Bund zuerst sichtbar; sie war stets ein Frühindikator für neue Mehrheiten also. Jede Mehrheit in der Bundesversammlung, die den Bundespräsidenten wählt, bedeutet immer auch eine machtpolitische Weichenstellung.

Hinzu kommt die bundesdeutsche Verfassungswirklichkeit. Der Kanzler wird von einer Mehrheit im Parlament und nicht direkt vom Volk gewählt. Und er kann vom Parlament nur abgewählt werden, indem sich eine Abgeordneten-Mehrheit für einen neuen Kandidaten findet.

Das macht alle Mehrheiten gegen einen regierenden Kanzler so hoch dramatisch, weil sich darin sein Machtverfall widerspiegelt - und dies gilt ganz besonders dann, wenn sich diese Mehrheit in einer zentralen Personalfrage, worum es sich beim Amt des Bundespräsidenten zweifellos handelt, gegen einen regierenden Kanzler zusammenfindet. So geschehen am Faschingssonntag, dem 19. Februar 2012.

Bis zum vergangenen Wochenende schien die Kanzlerin machtpolitisch auf festem Granit zu stehen. Sie ist international hoch angesehen, im Inland erzielt sie in allen Umfragen die höchsten Beliebtheitswerte, sie steht innerparteilich ohne Rivalen da, und mag ihr Koalitionspartner FDP auch mittlerweile bei zwei Prozent angelangt sein, so liegen CDU/CSU doch immer deutlich vor der SPD - und das linke Lager ist in vier Parteien gespalten, von denen zwei (Linkspartei und Piraten) nicht regierungsfähig sind.

Mag Merkels Koalition also bei oder auch vor der nächsten Bundestagswahl scheitern, das Kanzleramt kann der Amtsinhaberin niemand ernsthaft streitig machen. Scheinbar gab es keine Mehrheit gegen Angela Merkel. Scheinbar . . . Wer so kalkulierte, der unterschätzte die immer größere Überlebenspanik bei ihrem siechen Koalitionspartner. Seit Faschingssonntag und der überparteilichen Ausrufung Joachim Gaucks zum Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten hat sich der Granit, auf dem die Kanzlerin unerschütterlich zu stehen schien, in Treibsand verwandelt. Was war geschehen?

Ganz einfach, ihr Koalitionspartner FDP ist von der Fahne gegangen. In einer entscheidenden Frage hat er das Lager in Richtung Rot-Grün gewechselt. Und plötzlich war sie wieder da, die machtpolitische Magie der Bundespräsidentenwahl: in Gestalt einer neuen Mehrheit! Merkel hatte unversehens eine neue Mehrheit gegen sich und stand vor der Alternative, entweder einzuknicken oder die Koalition aufzukündigen. Zähneknirschend entschied sie sich für den Kniefall.

Doch der Bruch in der Koalition ist nicht mehr zu übertünchen. Gauck wurde von einer Ampelmehrheit (Rot, Grün, Gelb) durchgesetzt, die entgegen allen gegenteiligen Versicherungen nur durch die machtpolitischen Kalküle der beteiligten Parteien herbeigeführt worden war. In deren Schnittpunkt befand sich eben Joachim Gauck. Das macht die Angelegenheit für die Kanzlerin jedoch nur noch gefährlicher. Denn so sieht in der Regel der Beginn des Machtverfalls eines Bundeskanzlers und der ihn tragenden Mehrheit in der deutschen Verfassungswirklichkeit aus.

Das Vertrauen zwischen den Koalitionsparteien ist dahin. Ob die Liberalen mit ihrem Manöver Erfolg haben und sich über die Fünf-Prozent-Hürde werden retten können, oder ob sie aus Angst vor dem Tode Selbstmord begangen haben, das wird man nach den Landtagswahlen im Saarland und in Schleswig-Holstein wissen. Wenn die FDP sich dort retten kann, wird sie Richtung Ampel marschieren, sofern es für eine Mehrheit mit der Union nicht mehr reicht (was hoch wahrscheinlich ist). Und das könnte Merkel 2013 die Kanzlerschaft kosten.

Also werden die Unionsparteien keinerlei Rücksicht mehr auf ihren siechen Koalitionspartner nehmen. Angela Merkel bleibt nach der Wahl im Herbst 2013 nur die Rolle als Chefin der stärksten Partei in einer großen Koalition, wenn sie das Kanzleramt verteidigen will. Und dafür braucht sie jede Stimme des bürgerlichen Lagers. Mal sehen, wer im machtpolitischen Treibsand Berlins versinken und wer wieder festen Boden unter den Füßen bekommen wird. Für Angela Merkel wird es fortan ernst, sehr ernst. Die Krise hat Deutschland erreicht.

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Quelle:
SZ vom 24.02.2012/mkoh
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