Süddeutsche Zeitung

Politik:Macht muss für Frauen selbstverständlich werden

Zum ersten Mal besetzen Frauen die wichtigsten Chefposten der europäischen Institutionen. Das ist Grund zur Freude, aber es reicht noch nicht.

Kommentar von Cerstin Gammelin

Das Jahr 2019 ist aus weiblicher Sicht nicht irgendein Jahr. Sondern ein ganz besonderes. Vor 100 Jahren hat zum ersten Mal im Deutschen Reichstag eine Frau das Wort ergriffen, kurz nach der Einführung des allgemeinen Wahlrechts für Frauen. In diesem Jahr nun wurde wieder eine historische Hürde genommen. Zum ersten Mal besetzen Frauen die wichtigsten Chefposten in den europäischen Institutionen. Rechnet man die Regierungschefinnen in den europäischen Mitgliedstaaten hinzu, bleibt ein bemerkenswertes Fazit: Nie war mehr weibliche Macht in Europa.

Das ist Grund zur Freude. Grund zum Ausruhen ist es nicht. Denn auch wenn jetzt die Europäische Kommission, die Europäische Zentralbank und einige europäische Staaten weiblich geführt werden, heißt das noch nicht, dass die Entwicklung hin zu völlig normaler Gleichberechtigung unumkehrbar ist. Man muss nur einen Blick in die Parlamente werfen. Im Deutschen Bundestag sitzen weniger Frauen als in der vergangenen Legislaturperiode. Überall dort, wo es nur einzelne Frauen an die Spitze schaffen, besteht die Gefahr, dass sie schnell wieder weg sind. Der Grund ist heute derselbe wie vor Jahrzehnten: Eine Frau allein kann sich in traditionell männlich geprägten Strukturen kaum durchsetzen. Dazu bedarf es einer kritischen weiblichen Masse. Und weil diese Masse noch nicht erreicht ist, wäre es geradezu fahrlässig, jetzt die Hände in den Schoß zu legen.

Merkel, von der Leyen und Lagarde: Sie hören zu, wägen ab und entscheiden erst dann

Wie ein Signal zum unbedingten Weitermachen lesen sich auch die Zahlen der Statistiker. Danach gibt es in der Europäischen Union gut neun Millionen Personen in Führungspositionen; sechs Millionen davon sind männlich. Geht es um die Jobs ganz oben in der Geschäftsführung, besetzen Frauen nicht mal jeden fünften Chefsessel. Die Schlussfolgerung daraus ist eindeutig. Frauen müssen ihr Schicksal ein Stück weit mehr in die eigenen Hände nehmen. Konkret: Den männlichen, erprobten Netzwerken müssen weibliche folgen. Und das gelingt nur, wenn sich mehr Frauen nach oben trauen. Und Macht als etwas Selbstverständliches betrachten.

Wie real immer noch die Gefahr ist, dass es rückwärts gehen könnte auf dem Weg der gleichberechtigten Teilhabe an der Macht, zeigt die Art und Weise, wie Frauen auch heutzutage noch in höchste Positionen kommen. Die ostdeutsche Physikerin Angela Merkel hätte sich wohl niemals gegen die traditionellen westdeutschen Männerbünde durchsetzen können, wäre die CDU nicht durch die Spendenaffäre in einer dramatischen Krise gewesen, die glaubwürdig nur von einer unbeteiligten Person ausgeräumt werden konnte. Die umstrittene Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen wäre wohl kaum für das wichtigste europäische Amt als Präsidentin der Europäischen Kommission durchsetzbar gewesen, hätten die Staats- und Regierungschefs nicht nach endlosen fehlgeschlagenen Verhandlungen blamabel in einer Sackgasse festgesteckt.

Bei Christine Lagarde dagegen ist eine gewisse Entwicklung zu beobachten. Sie hatte ihren ersten internationalen Topjob einer ausgewiesenen Krisensituation zu verdanken. Sie wurde zur Chefin des Internationalen Währungsfonds berufen, als der Vorgänger über eine Sexaffäre gestolpert war. Den zweiten Topjob aber verdankt sie nicht einer Krise, sondern ihren besonderen kommunikativen Fähigkeiten: Lagarde wurde zur Präsidentin der Europäischen Zentralbank berufen, weil ihr Vorgänger sein Amt so schweigsam verrichtet hatte, dass sich die europäische Geldpolitik und die europäischen Bürger entfremdet haben. Lagarde soll es richten.

Merkel, von der Leyen und Lagarde sind verbunden durch ihren Willen zur Macht, der sie durch die gläserne Decke getragen hat. Beim Blick auf ihren Führungsstil fällt eine weitere Gemeinsamkeit auf: Diese Frauen hören zu. Sie wägen ab. Und entscheiden dann. Das unterscheidet sie von vielen männlichen Machthabern - und ganz besonders von einigen wie dem amerikanischen Präsidenten.

Die gute Nachricht ist, dass Anlass zur Hoffnung besteht, dass es nicht noch einmal hundert Jahre dauern wird, bis weibliche Macht so selbstverständlich wie männliche ist. Bis grundsätzlich Parität erreicht ist. Jenseits der drei mächtigsten Frauen in Europa, die alle jenseits der 60 sind, gibt es eine ganze Menge Frauen in allen Altersgruppen, die selbstverständlich mächtige Ämter ausfüllen. Die zehn Jahre jüngere dänische Superkommissarin Margrethe Vestager scheut sich nicht, US-Digitalgiganten ihre Grenzen aufzuzeigen. Die deutschen Bundesministerinnen sind jünger als ihre Chefin. Die skandinavischen Länder werden jung und weiblich regiert. Und es gibt ganz junge Frauen wie Greta Thunberg und Luisa Neubauer, die traditionelle Lebensweisen und Machtstrukturen infrage stellen. So können endlich die Netzwerke entstehen quer durch Generationen, die nötig sind, um die gleichberechtigte Teilhabe an der Macht unumkehrbar zu machen.

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SZ vom 27.12.2019/irm
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