Luxemburg:Juncker gegen Juncker

Luxemburg: Jean-Claude Juncker am Mittwoch in Brüssel

Jean-Claude Juncker am Mittwoch in Brüssel

(Foto: AFP)

Der ehemalige Premier Luxemburgs, Jean-Claude Juncker, ist jetzt Präsident der Europäischen Kommission - und muss gegen sich selbst ermitteln lassen. Denn die Steuerpolitik des Großherzogtums könnte gegen EU-Recht verstoßen.

Von Cerstin Gammelin, Brüssel

Sieht so ein Sieger aus? Steifbeinig und müde strebt Jean-Claude Juncker am 23. Oktober um 23.08 Uhr über den roten Teppich des Ratsgebäudes dem Dienstwagen zu. Es ist Gipfel in Brüssel; Junckers erste Gelegenheit, als vollumfänglich gewählter Präsident der Europäischen Kommission mit den Staatspräsidenten, Premierministern und Kanzlern der Europäischen Union den Sieg zu feiern.

Doch Juncker geht früher.

Am Tag zuvor hatte der Behördenchef in Straßburg vor Journalisten gesessen. Und seine Vergangenheit verteidigen müssen: "Sie waren viele Jahre Ministerpräsident von Luxemburg. Jetzt sind Sie Präsident der Europäischen Kommission. Diese Kommission hat Ermittlungen eingeleitet gegen das Steuerparadies Luxemburg. Ermittelt also jetzt Juncker gegen Juncker?"

Juncker will davon nichts wissen.

Unausgesprochen schwingt in der Frage der große Zweifel mit: Kann Juncker Kommissionschef? Jener Juncker, der 24 Jahre lang, zuerst als Finanzminister, dann in Personalunion als Premierminister Luxemburgs und Vorsitzender der einflussreichen Euro-Gruppe, europäische Steuer- und Unternehmensgesetze beschließen und im eigenen Land derart kreativ hat auslegen lassen, dass die Wettbewerbsabteilung der EU-Kommission wegen absehbaren Schadens an ihrer Glaubwürdigkeit nicht mehr anders konnte, als gegen Luxemburg wegen des Verdachts auf Verletzung europäischen Beihilferechts vorzugehen? Und zwar in der Zeit, in der Juncker dort regierte. Ist das nicht ein Interessenkonflikt zwischen Juncker in Luxemburg und Juncker in Brüssel?

In Brüssel gibt es Weggefährten, die sich über solche Fragen wundern. "Juncker hat es schon immer doppelt gegeben", sagt einer der Wegbegleiter. Einen für Europa, einen für Luxemburg. Kein Spitzenpolitiker nimmt Anstoß daran, Juncker ist beliebt, er baut die Euro-Währungsgemeinschaft und das Finanzdrehkreuz Luxemburg auf.

Der christsoziale Regierungschef tut, was er kann. 1988, im Jahr vor seinem Antritt als Finanzminister, verwalteten Luxemburger Fonds 53 Milliarden Euro Nettovermögen. Zum Ende seiner Amtszeit als Premierminister waren es etwa 3000 Milliarden Euro. Die Investmentgesellschaften balgen sich nicht um Luxemburger Kunden, sondern steuern weltweit Finanzgeschäfte. Vor den Fonds waren die Banken gekommen, vor allem deutsche Institute ziehen wegen der Mindestvorschriften ins Ausland. Das Großherzogtum lockt mit günstigen Bedingungen, die unter Juncker stabil bleiben.

Der Direktor der Luxemburger Bankenvereinigung, Jean-Jacques Rommes, räumt 2009 ein, die Regierung könne gut "zuhören". Die Wege zwischen Politik und Wirtschaft seien "kurz". In den Neunzigerjahren lässt Juncker eine europäische Finanzmarktrichtlinie zügiger als alle anderen Länder umsetzen - der legislative Vorsprung genügte, um wichtige globale Investoren ins Land zu holen. 2009 schafft er es, die OECD davon abzubringen, das Großherzogtum auf eine schwarze Liste zu setzen, die Regierungen brandmarkt, die keine Steuerinformationen preisgeben und Steuerflüchtlingen Unterschlupf bieten.

Er wirbt für eine Steuer - aber weil sie sowieso nicht kommt

Luxemburg weigert sich bis heute, Finanzgeschäfte zu besteuern. Juncker wirbt als Euro-Gruppen-Chef dafür, Banken an den Kosten der Krise zu beteiligen und die Umsatzsteuer auf Finanzgeschäfte einzuführen. Als Premier stimmt er im Europäischen Rat dagegen. Als Ernst Wilhelm Contzen, Chef der Deutschen Bank in Luxemburg, irritiert fragt, wieso er gelegentlich für die Finanztransaktionsteuer werbe, antwortet Juncker, für die Steuer könne er kämpfen, sie komme sowieso nicht.

Stattdessen kommen Banker, Fondsmanager, Rechtsanwälte, Steuerexperten, Unternehmensberater.

Juncker hat moralische Bedenken stets weggewischt mit Ironie, Sozialleistungen (Luxemburg zahlt den höchsten Mindestlohn in Europa) und Loyalität. Er sah Politiker kommen und gehen; er schwieg über vieles, was er sah. Er vermittelte zwischen Bonn, später Berlin und Paris. Bundeskanzlerin Angela Merkel nannte ihn einen "Glücksfall für Europa"; die Volksrepublik China sieht das, wenn auch aus anderem Grund, ähnlich, sie hat Luxemburg als Bankenplatz auserkoren, von dem aus sie auf Einkaufstour in Europa geht. Ebenso wie islamische Investmentgesellschaften.

Juncker hat das Großherzogtum zu einem der größten Finanzplätze weltweit gemacht. Jetzt ist er Präsident der Europäischen Kommission, die gegen aggressive Steuervermeider vorgehen und Banken an den Kosten der Krise beteiligen will. Die Bürger mögen es nicht, dass Konzerne kaum Steuern zahlen und sie selbst auf Sozialleistungen verzichten sollen.

Juncker wird im Dezember 60 Jahre alt. Schafft er es, sich der Zeit anzupassen?

Vor einem Jahr hat er erfahren müssen, wie es sein kann, wenn die Stimmung kippt. In Luxemburg organisiert die politische Konkurrenz eine Koalition gegen ihn; Juncker muss nach fast 19 Jahren als Regierungschef abtreten. "Unser Land ändert sich", sagt sein Nachfolger Xavier Bettel: "Vor 15 oder 20 Jahren gab es Betriebe in Luxemburg, die hätten da am liebsten nur diskret einen Briefkasten gehabt, sonst nichts." Damals, unter Juncker. "Heutzutage", legt Bettel nach, "sind Betriebe, die nach Luxemburg umziehen, solche, die es groß ankündigen und sagen, wir sind in Luxemburg."

Juncker hat offensichtlich keine Lust, dem neuen Zeitgeist einfach zu folgen. Er versucht, in Straßburg die Frage des Reporters nach Juncker gegen Juncker ins Leere laufen lassen. Das Ermittlungsverfahren sei nicht gegen das "Steuerparadies Luxemburg" eingeleitet, sondern gegen Luxemburg, bittet er den Frager um "präzisere Wortwahl". Zweitens: "Juncker ermittelt nicht gegen Juncker. Weil Juncker weder für das eine zuständig ist noch für das andere", sondern andere Dienststellen.

Juncker legt sich fest, wie er zu den Ermittlungen steht

Ansonsten: "Wenn es um Luxemburg geht in Wettbewerbsfragen oder Steuerfragen, werde ich keinen Einfluss auf die Geschehnisse nehmen. Ich werde nicht meine Macht missbrauchen, um in Sachen Luxemburg die Kommissare anders entscheiden zu lassen, als sie in ähnlich gelagerten Fällen entscheiden würden, es geht ja nicht nur um Luxemburg, sondern auch um benachbarte Steuerparadiese." Ist Luxemburg also doch ein Steuerparadies?

Premierminister Bettel treibt bei solchen Worten die Sorge um, "dass Juncker zu uns strenger ist als zu anderen". EU-Parlamentspräsident Martin Schulz sorgt sich dagegen, dass sich da einer aus seiner Verantwortung redet. "In aller Freundschaft", stellt er im Anschluss an Junckers "Ich-bin-nicht-zuständig"-Aussage klar, wozu er sich verpflichtet sieht: "Ich werde den Kommissionspräsidenten Juncker nicht aus der Verantwortung entlassen." Juncker habe im Europaparlament zugesichert, "das Land eines Unternehmens muss auch das Land der Steuer sein". Aus dieser Zusage folge, dass Juncker konkrete Gesetzesvorschläge "hinsichtlich des Bilanzrechts in Europa" vorlegen müsse: "Es kann nicht sein, dass multinationale Konzerne Milliardengewinne in einem Land machen, aber wegen ihrer Sitzstruktur keine Steuern zahlen. Dazu hat er sich verpflichtet; daraus werden wir ihn nicht entlassen."

Die Zukunft ist das eine, die Vergangenheit das andere. Letztere, konkret das im Juni 2014 von der Europäischen Kommission angestrengte Rechtsverletzungsverfahren gegen Luxemburg, kann Juncker die Zukunft verhageln. Es besteht der Verdacht, dass Luxemburg unter seiner Regentschaft nicht nur legale Schlupflöcher weidlich ausnutzte - wie andere Staaten, auch Deutschland. Sondern dass Luxemburg mit seiner Praxis, über Steuervorentscheidungen einzelnen Unternehmen Vorteile zu verschaffen, gegen EU-Beihilferecht verstoßen haben könnte.

Erschwerend kommt hinzu: Das Großherzogtum hat lange jegliche Auskunft darüber verweigert. Wie lange? Der Sprecher von Wettbewerbskommissar Joaquín Almunia, der das Verfahren gegen Luxemburg aufnahm, sagt, die Zusammenarbeit habe sich "in den letzten Monaten sehr deutlich verbessert". Im Sommer 2014 seien Informationen geliefert worden, insbesondere über das Unternehmen Amazon, das womöglich regelwidrig zu wenig Steuern zahlt. Im Sommer 2014: als Bettel regiert. Brüssel hatte die Informationen im Juni 2013 angefordert, nochmals im November 2013. Regierungszeit Juncker.

Aber weil Luxemburgs Behörden schweigen, platzt Almunia der Kragen. Er leitet das Verfahren ein. Juncker weg, Bettel da, wandelt sich das Land? Mitnichten. Die Kommission habe, sagt der Sprecher, noch längst nicht alle Informationen erhalten: "Das Rechtsverletzungsverfahren läuft also weiter." Das heißt, Kommissionschef Juncker muss seine Wettbewerbshüter gegen Luxemburg wegen möglicher Vertragsverletzungen ermitteln lassen, die in die Zeit des Premierministers Juncker fallen. Wird er das durchziehen? "Ich bin nicht sein Anwalt, aber warum sollte er das nicht tun?", springt Bettel dem Vorgänger bei. Juncker schweigt.

Bezüglich seiner Heimat hat er lediglich angekündigt, ihr privat treu zu bleiben. Trotz des Amtes in Brüssel will er weiter dort wohnen - und pendeln, was die Brüsseler Entourage verwundert. Dass Juncker oft müde erscheint, wie am Abend des EU-Gipfels, führen Weggefährten oft auf den Autounfall aus dem Jahr 1989 zurück, seither leide er an "Rücken- und Kniebeschwerden". Sollten die schlimmer werden, hat er vorgesorgt. Ein Stellvertreter ist bevollmächtigt zu übernehmen, sollte Juncker "physisch und/oder psychisch" nicht anwesend sein. Die EU-Kommission muss funktionieren. Auch wenn der Chef mal früher geht.

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