Süddeutsche Zeitung

Luther:Kainsmal der Ambivalenz

Darf man den Reformator feiern? Man darf - im Bewusstsein des Widersprüchlichen und Uneindeutigen. So wird das Reformationsjahr ein Fest für alle.

Von Matthias Drobinski

Was hat das mit uns zu tun, mit den Menschen, die sich durch die Gegenwart wursteln, dass ein Doktor der Theologie vorm Allerheiligentag 1517 gegen die damalige Unsitte wetterte, die Erlösung vom Fegefeuer gegen Geld zu verkaufen? Vor 33 Jahren hieß in Westdeutschland die Antwort: Nicht sehr viel. 1983, zum 500. Geburtstag des Doktors Martin Luther, gab es einen großen Historikerkongress, die Fachleute für Reformationsgeschichte blieben unter sich. Es war die DDR, die Luthers politisches Erbe für sich reklamierte und Luther als geistigen Vorläufer Erich Honeckers feierte, Sonderbriefmarke inklusive.

So gesehen kann man schon staunen, was jetzt alles los ist: Ein ganzes Jahr lang feiern der Staat und die evangelische Kirche, diesmal gemeinsam mit den katholischen Glaubensgeschwistern. Hunderttausende Gläubige und Neugierige werden zu Tausenden Veranstaltungen erwartet. Wer jetzt kein Luther-Buch schreibt, der schreibt auch keines mehr, und selbst der Papst kommt nach Lund und feiert mit. 2016 scheint Martin Luther sehr viel mit der Gegenwart zu tun zu haben. Man kann das mit dem Trend zum Event erklären und dem gestiegenen Öffentlichkeitsbewusstsein der evangelischen Kirche, auch mit der Professionalisierung des Fremdenverkehrs. Aber das genügt nicht. Es sind Wunsch und Bedürfnis gewachsen, nach dem zu suchen, was Vergangenheit und Gegenwart verbindet; sich der Wurzeln zu vergewissern, und dessen, was einen ausmacht; zu definieren, auf wessen Schultern man steht. Je weniger dies sicher zu sein scheint, je weniger Bindung und Herkunft selbstverständlich Leben und Denken prägen, umso drängender scheint dieser Wunsch zu werden.

Wer jetzt kein Lutherbuch schreibt, der schreibt keines mehr

Martin Luther bietet sich gut zur Selbstvergewisserung an. Ja, andere haben vor ihm und zugleich mit ihm Ähnliches gedacht, aber manchmal verdichten sich historische Prozesse doch in einzelnen Personen. Wer heute über die Freiheit des Menschen redet und über sein Gewissen, kommt um Martin Luther nicht herum; wer Deutsch spricht sowieso nicht. Wer fragt, warum man in Europa und Nordamerika denkt, wie man denkt, der landet beim Reformator. Und auch, wer die Glaubenslandschaften der westlichen Welt durchstreift, die katholischen eingeschlossen: Ohne Luther würde Papst Franziskus heute anders glauben.

Doch da ist die andere Seite Martin Luthers: der Hass auf Juden, Muslime, Katholiken, alle Andersdenkenden, umso stärker, je älter der Wittenberger wurde; seine Entscheidung gegen die aufständischen Bauern, jene Zwei-Reiche-Lehre, die jahrhundertelang die protestantische Obrigkeitshörigkeit begründete. Luther war, was er über den Menschen lehrte: simul iustus et peccator, Gerechter und Sünder zugleich. Und so trägt jedes Gedenken an Luther, jede Vergegenwärtigung eines Menschen an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit, das Kainsmal dieser Ambivalenz. Wer heute Luther in die Gegenwart holt, muss wissen, dass andere dies vor ihm getan haben - um zu zeigen, dass der Protestant besser ist als der Katholik, der Deutsche dem Franzosen überlegen, der Christ höher steht als der Jude.

1983 ließ man in Westdeutschland Luther lieber ganz in der Vergangenheit. Die DDR wiederum holte in die Gegenwart, was ihr gefiel und nützte. Beides wurde der Sache nicht gerecht. Ja, es führen keine geraden Wege von der Vergangenheit in die Gegenwart, es sind eher Fäden, die von hier nach dort führen. Aber es hängt eben doch die Gegenwart an diesen Fäden. Sie wird ja blass und lebensleer ohne die Erinnerung und maßstabslos ohne das Gedächtnis.

Das könnte die Erkenntnis dieses Reformationsjahres sein: Ohne Gedächtnis und Gedenken wird das Leben wurzellos und damit auch zukunftslos. Es gibt dieses Gedenken aber nicht ungebrochen. Identität, sie muss immer wieder neu gewonnen werden, sie ist nicht ungebrochen und ohne Widersprüche zu haben. Das verbietet jede platte Identitätspolitik, beim Reformationsgedenken wie beim Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses. Das entlarvt vor allem alle als verlogen, die Identitäten aus der Geschichte herstellen, herausfiltern und eindeutig machen wollen - oft, um das Eigene in Abgrenzung zum Fremden zu sichern.

Ja, man kann es heute feiern, dass Martin Luther vor bald 500 Jahren das Christentum erneuern wollte - und nebenbei die Welt veränderte. Man kann es feiern im Bewusstsein des Widersprüchlichen, Unvollkommenen und Uneindeutigen, das diese Feier mit sich bringt; man kann es feiern in Erinnerung an das Leid, das aus dieser Weltveränderung kam - das immer kommt, wenn einer hasst und abgrenzt und abwertet. Dann wird das Reformationsjahr ein Fest für alle.

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SZ vom 31.10.2016
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