Der wichtigste und umfangreichste Bericht über die folgenreichste Kriegshandlung in der Geschichte des modernen Deutschland trägt die Unterschrift des Isaf-Kommandeurs Stanley McChrystal auf der ersten Seite und den wenig prosaischen Titel: "Bericht der Untersuchung der gemeinsamen Untersuchungskommission über den Luftschlag in der Provinz Kundus vom 4.September 2009." Die Nato hat den Bericht als "geheim" eingestuft. Vier Mitglieder der Kommission werden namentlich aufgelistet, unter ihnen auch ein deutscher Oberstleutnant. Außerdem werden noch neun Berater genannt.
Die Berichterstatter unterteilen ihre Arbeit in "Erkenntnisse" und "Beobachtungen" sowie eine "Zusammenfassung"; für den eiligen Leser wird alles auf etwa 20 Seiten verdichtet. Den meisten Platz des mehr als 500 Seiten starken Kompendiums beansprucht der Anhang, in dem Protokolle, andere Berichte, Interviews und Tabellen enthalten sind.
Viele Details des Berichts wurden bereits bekannt, neu sind indes drei Erkenntnisse: Erstmals sind nun die von der Isaf ermittelten Opferzahlen schriftlich belegt. Zweitens wird deutlich, dass der deutsche Oberst Klein nicht die Tanklastzüge als Bedrohung ansah und folglich zerstören wollte. Vielmehr macht der Isaf-Kommandeur in dem Report klar, dass Klein die etwa 60 bis 80 Taliban-Kämpfer auf der Sandbank bekämpfen wollte, unter ihnen auch hochrangige Anführer. Drittens wird deutlich, dass es nicht die Bundeswehr war, die eine hohe Zahl von Sprengbomben angefordert hatte, wie vielfach berichtet. Vielmehr wurden die Waffen in einer Art Verhandlungsdialog zwischen den US-Piloten und dem deutschen Fliegerleitoffizier ausgewählt.
In kühler, sachlicher Chronologie tasten sich die Berichterstatter durch die Einsatznacht, die damit begann, dass "Quellen" das deutsche Kommando in Kundus über die Tanklastzug-Pläne der Taliban unterrichteten. Die Aufständischen wollten demnach die beiden gekaperten Tanklastzüge über den Kundus-Fluss zum Dorf Omar-Khel und weiter nach Gor Tepa bringen, 20 Kilometer nordwestlich von Kundus. Augenzeugen berichteten von 80 Taliban-Kämpfern, von denen einige bewaffnet gewesen seien. Die Zahl der Menschen an den Tanklastzügen habe "zu Spitzenzeiten zwischen 20 Uhr und 21 Uhr bei 300 gelegen - Taliban, Taliban-Sympathisanten und Unterstützer, ihre Familien und Dorfbewohner".
Um Mitternacht meldete der Späher dann, die Fahrzeuge steckten fest und könnten nicht mehr von der Sandbank befreit werden. "Die Fahrzeuge sollten nach brauchbarem Material ausgeschlachtet werden", heißt es. Später meldete der Vorposten, dass nun "alle Menschen am Fluss zu den Taliban" gehörten, und sich "keine Zivilisten in der Gruppe" befänden. "Die gesamte Taliban-Gruppe aus dem Aliabad-Distrikt und mehrere bekannte Taliban-Anführer waren anwesend."
"Keine unmittelbare Bedrohung"
Zu diesem Zeitpunkt bereits hatte der deutsche Kommandeur, Oberst Georg Klein, einen B-1-Bomber der US-Luftwaffe angefordert, dessen Besatzung empfahl, acht 500-Pfund-Bomben (umgerechnet etwa je 225 Kilo) auf das Zielgebiet zu werfen. In dem Isaf-Bericht steht: "Jet-Flugzeuge in der Luft konnten von der Gruppe gehört werden, und die Taliban-Führer warnten ihre Leute vor einem möglichen Luftschlag. Allerdings schenkte keiner am Ort der Warnung Gehör." Diese Darstellung im Bericht widerlegt die Vermutung, die Menschen hätten erst durch einen Tiefflug gewarnt werden können. Der Flugzeuglärm war laut dem Vertrauensmann nahe der Sandbank auch so hörbar gewesen. Um 48 Minuten nach Mitternacht dreht der B-1-Bomber ab und kehrt auf seinen Stützpunkt zurück.
Um noch einmal Kampfflugzeuge über die Sandbank beordern zu können, musste sich Oberst Klein einer Unwahrheit bedienen: Er meldete eine TIC-Situation (troops in contact) - die eigenen Truppen hätten Feindberührung und brauchten Unterstützung. All dies, "obwohl keine unmittelbare Bedrohung da war", wie der Isaf-Bericht erstmals spitz bemerkt.
"Er wollte, dass sie unmittelbar zuschlagen."
Die zwei nun anfliegenden F-15-Jagdbomber wurden vom deutschen Fliegerleitoffizier (joint tactical air controller) angewiesen, sie sollten sechs 500-Pfund-Bomben zum Abwurf fertig machen. Offenbar hatte der Deutsche den Vorschlag der ersten Bomber-Besatzung leicht unterboten. Es entspann sich ein Dialog zwischen der Flugzeugbesatzung und dem Offizier am Boden über die richtige Sprengkraft. Außerdem schlug die F-15-Besatzung zum ersten Mal vor, zunächst doch eine Machtdemonstration zu wagen und die Menschen am Boden durch einen tiefen Überflug zu vertreiben. Der Fliegerleitoffizier lehnte dies ab.
Nachdem die Flugzeugbesatzung im Gegenzug vier Bomben mit je 500 Pfund ins Spiel gebracht hatte ("zwei auf jedes Fahrzeug"), meldete sie plötzlich Bewegung am Boden. Eine Gruppe Menschen sei über die Sandbank auf das nördliche Ufer zugelaufen. Der Kontrolloffizier am Boden, offenbar immer nach Rücksprache mit Oberst Klein, drängte nun zum Einsatz. Die Zeit werde knapp ("time sensitive"). Er gab Befehl, den Abwurf einer einzigen 2000-Pfund-Bombe vorzubereiten. Auch dagegen machte die Flugzeugbesatzung ihren Einspruch geltend. An dieser Stelle vermerkt der Isaf-Bericht: "Er (der Kommandeur) hat die Menschen als Ziel, nicht die Fahrzeuge."
Als die F-15-Besatzungen die eigentliche Absicht des Bombardements erkannten, schlugen sie vor, den übergeordneten Gefechtsstand von Isaf-Chef McChrystal um Erlaubnis zu bitten, "damit sie abgesichert wären", wie es in dessen Bericht weiter heißt. Doch der deutsche Fliegerleitoffizier teilte lediglich mit, dass es bereits "die Genehmigung vom Kommandeur des PRT" (Provincial Reconstruction Team, Oberst Klein) gebe. Noch einmal schlugen die Piloten vor, zunächst im Tiefflug über die Menge zu fliegen und dann den Abwurf von zwei Bomben à 500 Pfund klarzumachen. Der PRT-Kommandeur gab sein Einverständnis zu der Bombenlast, verweigerte aber die Machtdemonstration im Tiefflug (show of force). "Er wollte, dass sie unmittelbar zuschlagen." Darauf fragten die F-15 um eine letzte Bestätigung, dass es sich um eine unmittelbare Bedrohung für die Truppe durch die Menschen am Boden handele. Offenbar wollte sich die Besatzung erneut gegen unrechtmäßiges Handeln absichern. Der deutsche Offizier bestätigte, dass sich die Taliban neu formierten und womöglich das Lager Kundus angreifen würden.
Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum die lokale Bevölkerung laut Nato-Bericht von Euphorie erfasst wurde.
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"Die F-15 feuerten vier Minuten später ihre Waffen ab", hält der Bericht fest. Um fünf Uhr morgens berichteten die ersten Medien über den Vorfall, um sieben Uhr wusste die Welt dank des englischsprachigen Dienstes von al-Dschasira, dass es "60 zivile Tote" gegeben habe.
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Diese Zahl bestätigt der Isaf-Bericht freilich nicht. Die Berichterstatter verwenden viel Platz auf ihre Erkenntnisse zur Frage nach der tatsächlichen Opferzahl. Das unbefriedigend vage Ergebnis: zwischen 17 und 142. "Es ist nicht möglich, die exakte Zahl festzulegen. Aber Beweisstücke, Berichte und wissenschaftliche Untersuchungen aus der Video-Analyse lassen vernünftigerweise annehmen, dass sich etwa 100 Menschen im Umkreis der Fluss-Furt" aufgehalten hätten.
Bewusst vage formuliert
Der Bericht bemängelt, dass es keine forensische Untersuchung gegeben habe, weil ein Erkundungsteam erst spät am nächsten Tag an der Stelle angekommen war - offenbar weil man angenommen habe, es gebe keine zivilen Opfer. "Berichte und Berechnungen örtlicher Stammesführer lassen aber annehmen, dass etwa 30 bis 40 Zivilisten getötet und verwundet sein könnten", heißt es weiter. Der Bericht ist an dieser Stelle bewusst vage formuliert. Offensichtlich liefert aber auch kein anderer Bericht verlässlichere Opferzahlen.
Die Isaf-Untersuchung stellt dann eine umfassende Abwägung von Fakten und Argumenten an, die das Für und Wider der Entscheidung zum Luftangriff schildern, aber auch eindeutiges Fehlverhalten offenbaren. So wird es als "unzureichend" eingestuft, dass nur eine nachrichtendienstliche Quelle von der Sandbank berichtet habe und ansonsten nur die Videoaufnahmen aus dem Flugzeug zur Entscheidungsfindung vorgelegen hätten. Dies sei, so heißt es jedenfalls knapp im Bericht, als Basis "für eine derart komplexe Operation" nicht ausreichend.
Ausführlich begründet der Bericht, warum Oberst Klein und der Fliegerleitoffizier die Isaf-Verfahren und Anweisungen für eine Zielbekämpfung missachtet hätten. Dies habe dazu geführt, dass es am Ende "Handlungen gegeben hat, die nicht im Einklang stehen mit den dynamischen Zielerfassungsmethoden". Übersetzt heißt das: Die Regeln der Isaf für die Bombardierung feindlicher Kämpfer und beweglicher Ziele wurden gebrochen.
Mahnend stellt der Isaf-Kommandeur McChrystal dann fest, dass der deutsche Fliegerleitoffizier bis zu dem Vorfall nur wenig Erfahrung gesammelt hatte. Er habe 40 Einsätze geleitet, davon fünf mit Waffengebrauch. "Ihm fehlten die Erfahrung und das Wissen über dynamische Zielverfahren." Ebenso knapp konstatiert der Bericht, dass Oberst Klein die Meldung "Feindberührung" (troops in contact) nicht hätte abgeben dürfen. "In dieser taktischen Situation gab es keine Feindberührung", hält das Dokument fest. Weiter heißt es: "Der Einsatz von Luftunterstützung zur Bekämpfung großer Menschenansammlungen, ohne dass eine unmittelbare Bedrohung für die eigenen Kräfte vorliegt, steht nicht im Einklang mit den Absichten und Weisungen des Isaf-Kommandeurs."
Eine Art Schutzreflex
Ein bisschen Selbstkritik übt McChrystal schließlich, wenn er von der "voreiligen Preisgabe von Informationen an die Medien" schreibt. Damit kann er nur sich selbst gemeint haben, denn es war der Isaf-Kommandeur, der am Tag nach dem Bombardement mit der Washington Post im Schlepptau nach Kundus reiste und die Details seiner Erkundungsmission am nächsten Tag selbst in der Zeitung nachlesen konnte. Dafür wurde er von der Nato, der deutschen Bundesregierung und vermutlich auch seinen eigenen Vorgesetzten in Washington ermahnt.
Ausführlich berichtet die Untersuchungskommission über die Reaktion der Afghanen auf das Bombardement. "Dem Luftschlag folgte eine Welle der Euphorie in der lokalen Bevölkerung." Den Angriff werteten die Menschen demnach als Hinweis darauf, dass die Schutztruppe und das deutsche PRT "endlich etwas gegen die wachsende Taliban-Aufstandsbewegung unternahmen". Die Mitglieder der PRT-Mannschaft "wurde als Helden angesehen. Die Öffentlichkeit empfand, dass die Luftschläge gerechtfertigt gewesen seien, und dass die vom Angriff getöteten oder verletzten Menschen ihre gerechte Strafe dafür erhalten hätten, dass sie an der kriminellen Tat des Treibstoffdiebstahls teilgenommen hatten."
Der Bericht zeigt auch Verständnis für die angespannte Lage im deutschen Feldlager in Kundus und den Entscheidungsdruck seines Kommandeurs. Nach dem "ersten komplexen Hinterhalt von Ende April" war das Lager unter ständigem Beschuss von Raketen gelegen, Patrouillen wurden regelmäßig überfallen, der Bedrohungsgrad sei deutlich gestiegen. Die Verwaltungschefs der betroffenen Distrikte hätten sich über den Mangel an Polizisten beklagt und die Zahl der Taliban-Kämpfer mit mehr als tausend angegeben. "100 Älteste hatten um Hilfe gebeten." Der Bericht suggeriert, dass Oberst Klein eine Art Schutzreflex aufgebaut habe und tatsächlich in der Angst vor einem massiven Überfall auf sein Lager leben musste.
Acht Stunden vor dem Bombardement hatte eine Einheit aus seinem PRT alle acht ihrer Fahrzeuge verloren - ein immenser Schaden. Der B-1-Bomber war ursprünglich angefordert worden, um ein zurückgelassenes Panzerfahrzeug aus der Luft zu zerstören, damit die Taliban keinen Zugang zu Technik und Funkausrüstung bekämen. Auf einen Schlag etwa 60 Taliban-Kämpfer zu töten, musste dem Kommandeur in diesem Augenblick wie eine gute Gelegenheit vorgekommen sein.