Luftangriff in Afghanistan:Kundus-Affäre: Eine Chronik

Bombenangrif auf Tanklaster in Kundus

Militärisch angemessen? Afghanische Sicherheitsbeauftragte inspizieren am 04.09.2009 die ausgebrannten Tanklastzüge in Kundus.

(Foto: epa Jawed Kargar/dpa)

Über fünf Jahre ist es her, dass ein deutscher Oberst in Afghanistan den Befehl zur Bombardierung zweier Tanklastwagen gab. Was seither geschah.

Mehr als 100 Menschen starben bei dem Luftangriff in Kundus - auf Befehl eines deutschen Oberst. Die Angehörigen der Opfer fordern von der Bundesrepublik eine angemessene Entschädigung. Heute beginnt vor dem Oberlandesgericht Köln der Berufungsprozess im Streit um Schadenersatz. Das Landgericht Bonn hatte die Klage eines afghanischen Vaters und einer Witwe zuvor abgewiesen. Die Kontroverse um Schuld oder Unschuld der deutschen Beteiligten dauert an. Die Ereignisse in der Chronik.

2009

4. September: Der Angriff

Gegen zwei Uhr nachts gibt Oberst Georg Klein den Befehl, zwei von Taliban entführte Tanklastwagen zu bombardieren. Klein sieht die Laster, die zum Zeitpunkt des Bombardements auf einer Sandbank manövrierunfähig festsitzen, als akute Bedrohung für seine Soldaten, so erklärt er es später. US-Jets führen den Befehl aus. Das deutsche Verteidigungsministerium lässt verlauten, dass keine Unbeteiligten ums Leben gekommen seien und spricht von etwa 50 Aufständischen.

5. September - 7. September: Widersprüchliche Informationen

Über zivile Opfer gibt es in den ersten Tagen nach dem Angriff unterschiedliche Angaben: Der Oberkommandierende der US- und Nato-Truppen in Afghanistan, US-General Stanley McChrystal, bestätigt nach einem Besuch des Angriffsziels zivile Verletzte. Der deutsche Verteidigungsminister Franz Josef Jung hingegen erklärt, nach seinen Informationen seien bei dem Angriff ausschließlich terroristische Taliban getötet worden.

8. September: "Völlig richtige Entscheidung"

Nur wenige Tage später muss das Verteidigungsministerium die Zahl der Getöteten nach oben korrigieren. Erstmals heißt es, dass möglicherweise doch Zivilisten getroffen wurden. Minister Jung steht jedoch weiterhin hinter Oberst Klein: "Die Entscheidung war völlig richtig." Bundeskanzlerin Angela Merkel verspricht in einer Regierungserklärung "lückenlose Aufklärung" der Bombardements und verbittet sich internationale Kritik.

10. - 17. September: Der Nato-Bericht

Verschiedene Medien zitieren aus einem vorläufigen (und noch nicht offiziell bestätigten) Bericht der Afghanistan-Schutztruppe Isaf zu dem umstrittenen Luftangriff in Kundus. Demnach sollen etwa 100 Menschen ums Leben gekommen sein, 30 davon Zivilisten. Die anderen 70 Toten ordnet die Nato "feindlichen Kräften" zu. Oberst Klein, so heißt es in dem Bericht zudem, habe mit dem Angriffsbefehl seine Kompetenzen überschritten. Später geht die Nato von bis zu 142 Toten aus.

29. Oktober: Der Isaf-Bericht

Aus einem Isaf-Untersuchungsbericht schließt der Generalinspekteur der Bundeswehr, Wolfgang Schneiderhan, der verheerende Luftangriff sei militärisch angemessen gewesen. Oberst Klein habe die Lage richtig beurteilt und davon ausgehen können, dass keine Unbeteiligten durch den Luftschlag zu Schaden kommen würden. Die Süddeutsche Zeitung berichtet jedoch unter Berufung auf denselben Bericht, Klein habe gegen Einsatzregeln verstoßen.

6. November: "Militärisch angemessen"

Karl-Theodor zu Guttenberg, seit zehn Tagen Bundesverteidigungsminister, bewertet den Angriff jedoch wie sein Vorgänger Jung: Der Luftschlag sei "militärisch angemessen" gewesen, erklärt Guttenberg am 6. November 2009. Es habe aber Verfahrensfehler durch Ausbildungsmängel und verwirrende Einsatzregeln gegeben.

26. November: Informationspannen im Verteidigungsministerium

Guttenberg entbindet Generalinspekteur Schneiderhan von seinem Amt und beurlaubt Staatssekretär Peter Wichert. Als Gründe gibt der CSU-Politiker die Zurückhaltung von Informationen über das Bombardement an. Die Luftangriffe wolle er neu beurteilen, kündigt er an. Die Opposition verlangt eine parlamentarische Untersuchung der Umstände des Luftangriffs. Auch Kanzlerin Merkel fordert volle Transparenz über den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr.

Die Bild-Zeitung meldet, Jung müsse bereits viel früher über mögliche zivile Opfer informiert gewesen sein als bislang bekannt. Dieser räumt zwar ein, dass er einen Feldjägerbericht für die Nato freigegeben, dessen brisanten Inhalt aber nicht gelesen habe. Insgesamt rechtfertigt er jedoch sein Verhalten.

27. November: Jung tritt zurück

Ex-Verteidigungsminister Jung tritt als Arbeitsminister wegen der Informationspannen zurück. Fehler räumt er jedoch nicht ein. Sein Nachfolger Guttenberg erklärt, die Pannen seien noch größer als bisher bekannt. Ihm seien Einschätzungen zum Luftangriff vorenthalten worden. Er sichert den Abgeordneten größtmögliche Transparenz zu. Wenn ihm alle Unterlagen vorlägen, werde er den Luftangriff neu bewerten.

30. November - 3. Dezember: Guttenbergs Sinneswandel

Verteidigungsminister Guttenberg räumt Fehler vor und nach dem Bombardement der entführten Tanklaster ein und bezeichnet den Militärschlag nun als "nicht angemessen". Gleichzeitig nimmt er den verantwortlichen Oberst Klein in Schutz. Dieser Sinneswandel wirft die Frage auf, über welche Informationen der Verteidigungsminister nun verfügt, die er vorher nicht gehabt hat. Koalition und Opposition beschließen daher, den Verteidigungsausschuss in einen Untersuchungsausschuss umzuwandeln.

4. Dezember: Merkels Sinneswandel

Auch Merkel hält die Bombardierung der Tanklaster nun nicht mehr für militärisch angemessen. Bei ihrer Regierungserklärung vom 8. September 2009 habe sie noch nichts über zivile Opfer gewusst, sagt sie. Inzwischen ist jedoch bekannt, dass zumindest dem Verteidigungsministerium zu diesem Zeitpunkt schon Berichte über getötete Zivilisten vorlagen.

6. Dezember: Diskussion über Entschädigungen

Angehörige der Opfer drohen mit einer Klage vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Einen Tag später gibt die Bundesregierung bekannt, die zivilen Opfer des Luftangriffs schnell entschädigen zu wollen.

9. - 11. Dezember: Bericht des Roten Kreuzes

Inhalte eines Berichtes des Internationalen Roten Kreuzes werden öffentlich, demzufolge der Angriff zahlreiche zivile Opfer gefordert hat. Das Rote Kreuz stuft das Bombardement als "völkerrechtswidrig" ein. Schlecht für Guttenberg: Ihm lag dieser Bericht angeblich schon am 6. November vor, als er den Militärschlag noch "angemessen" fand.

12. Dezember: Taliban als Ziel

Mehreren Medienberichten zufolge sollen nicht vorrangig die beiden gekaperten Tanklaster, sondern eine Gruppe von Taliban Ziel des Angriffs gewesen sein. Befehlshaber Oberst Klein betonte angeblich in einem Bericht selbst seine Entschlossenheit, Aufständische zu "vernichten". Das ist brisant, weil die gezielte Tötung von Aufständischen nicht mit dem Mandat vereinbar ist. Der Bericht sei dem Verteidigungsministerium bereits einen Tag nach dem Angriff bekannt gewesen.

16. Dezember: Untersuchungsausschuss

Der Verteidigungsausschuss des Bundestages zur Kundus-Affäre wandelt sich in einen Untersuchungsausschuss um. Der Ausschuss will die Vorfälle mindestens ein Jahr lang aufklären. Im Januar sollen auch Merkel und Guttenberg als Zeugen geladen werden.

Untersuchung und Aufarbeitung

2010

21. Januar: Erste Sitzung des Untersuchungsausschusses

Vor der ersten Sitzung des Untersuchungsausschusses zur Kundus-Affäre gerät Guttenberg immer stärker unter Druck: Ein neuer Bericht über das Bombardement wird öffentlich, der belegt, dass dem Verteidigungsminister die Fehler von Oberst Klein schon bekannt waren, als er dessen Verhalten noch als "militärisch angemessen" bezeichnete. Wie er darauf kam, wird er dem Ausschuss erklären müssen.

16. April: Einstellung des Verfahrens gegen Oberst Klein

Die Bundesanwaltschaft stellt das Verfahren gegen Oberst Georg Klein ein, weil dieser nicht gegen geltendes Recht verstoßen habe und zum Zeitpunkt des Angriffs nicht davon ausgehen konnte, dass sich Zivilisten an den Tanklastern befanden.

19. August: Kein Disziplinarverfahren

Nach vier Monaten Prüfung gibt das Verteidigungsministerium bekannt: Die Bundeswehr wird gegen Oberst Georg Klein kein Disziplinarverfahren wegen des von ihm befohlenen Angriffs einleiten.

5. September: Opfer verklagt Deutschland

Einer der Tanklasterfahrer, der bei dem Angriff verletzt wurde, reicht beim Verwaltungsgericht Köln Klage gegen die Bundesrepublik ein. Das Ziel der Amtshaftungs- und der Feststellungsklage gegen das Verteidigungsministerium: Das Gericht soll feststellen, dass die Bombardierung rechtwidrig gewesen sei.

2011

11. Februar: Merkel als Zeugin

Angela Merkel steht als Zeugin vor dem Kundus-Untersuchungsausschuss. Mit Blick auf den damaligen Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU), der den Angriff als militärisch angemessen eingestuft hatte, sagt die Kanzlerin, es habe zu dem Vorfall "unterschiedliche Bewertungen" gegeben. Sie habe Jung daher am Tag nach dem Angriff telefonisch aufgefordert, in seine Bewertung auch die bereits verfügbaren Berichte über zivile Opfer einzubeziehen. Sie verweist auf ihre Regierungserklärung vom 8. September 2009, in der sie zivile Opfer nicht ausgeschlossen hatte.

2. Juli: Guttenberg entlastet

In ihrer Bewertung des Kundus-Untersuchungsausschusses bescheinigen die Regierungsparteien Union und FDP dem ehemaligen Verteidigungsminister Guttenberg fehlerfreies Verhalten. Verantwortlich machen sie ausschließlich den damaligen Staatssekretär Peter Wichert und den früheren Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan, die Guttenberg im November 2009 vom Amt entbunden beziehungsweise beurlaubt hatte.

11. August: Opposition erhebt Vorwürfe

Die Opposition kommt in ihren Sondervoten zum Untersuchungsausschuss zu einem anderen Ergebnis: Die Aktion sei eindeutig unverhältnismäßig und möglicherweise auch völkerrechtswidrig gewesen. Oberst Klein hat nach Ansicht der SPD den Befehl zur Bombardierung nicht zum Schutz seiner Soldaten gegeben. Sondern es müsse "gerade die Vernichtung der Personen vor Ort das vordringliche, wenn nicht sogar das einzige Ziel des Bombenabwurfs gewesen sein". Bei Einhaltung aller Regeln hätte Oberst Klein den Befehl zum Bombenabwurf nicht geben dürfen. Diese zumindest fahrlässig begangenen Dienstpflichtverletzungen hätten zur Einleitung eines förmlichen disziplinarischen Ermittlungsverfahrens "führen müssen". Grüne und Linke erheben ähnliche Vorwürfe.

3. Dezember: Schadenersatzklage

Zwei Hinterbliebene reichen beim Bonner Landgericht Schadenersatzklage gegen die Bundesrepublik Deutschland ein. Sie fordern 40 000 bis 50 000 Euro. Weitere Klagen von Opfern sollen folgen.

2012

9. Februar: Feststellungsklage abgewiesen

Das Verwaltungsgericht Köln weist die Feststellungsklage des afghanischen Tanklasterfahrers als unzulässig zurück.

2013

3. April: Klein zum General befördert

Georg Klein wird trotz massiver Proteste von Angehörigen der Opfer und Kritik auch aus den Reihen der Opposition zum General befördert. Karim Popal , der Anwalt der Hinterbliebenen, spricht von einer "Kriegserklärung".

11. Dezember: Schadenersatzklage abgewiesen

Das Landgericht Bonn weist die Klage der Opfer des Luftangriffs im afghanischen Kundus ab. Es liege keine "Amtspflichtverletzung" vor, die die Bundesrepublik in dem Fall haftbar mache, heißt es in dem Urteil. Laut Verteidigungsministerium wurden allerdings bereits etwa 350 000 Euro an betroffene afghanische Familien gezahlt.

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