Luftangriff in Afghanistan:Jung bringt Regierung in Erklärungsnot

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125 Tote, darunter möglicherweise Zivilisten - neue Nato-Erkenntnisse zu dem Luftangriff in Afghanistan stehen in scharfem Kontrast zu der bisherigen Darstellung von Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU). Kanzlerin Merkel sagte eine rasche Aufklärung zu.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat eine rasche Aufklärung des von der Bundeswehr befohlenen Luftangriffs in Afghanistan mit dutzenden Toten zugesagt. Deutschland werde der NATO-Untersuchungskommission alle relevante Informationen bereitstellen, versicherte Merkel am Sonntag bei einem Treffen mit dem britischen Premierminister Gordon Brown in Berlin. Es gehe ihr darum, schnell aufzuklären, ob es auch zivile Opfer gegeben habe. Falls diese zu beklagen seien, bedauere sie das zutiefst.

Die Bundeswehr gerät wegen des verheerenden Luftangriffs von Freitag unterdessen immer stärker in die Kritik: Nach dem Angriff auf zwei gekaperte Tanklastwagen in Nordafghanistan sind nach ersten Erkenntnissen eines Nato-Untersuchungsteams etwa 125 Menschen ums Leben gekommen. Das wären weit mehr als die von der Bundeswehr genannten 56 Toten. Mindestens zwei Dutzend der Opfer seien nach Einschätzung des Nato-Teams keine Taliban gewesen, berichtete die Washington Post. Auch Nato-Kommandeur Stanley McChrystal sagte einem Bericht von CNN zufolge erneut, er sei überzeugt davon, dass bei der Aktion auch Zivilisten verletzt worden seien.

Das Verteidigungsministerium in Berlin hat die von der Nato angegebene Opferzahl mittlerweile entschieden zurückgewiesen. "Die Zahlen sind absolut nicht nachvollziehbar", sagte Ministeriumssprecher Thomas Raabe. Er betonte, auch die Internationale Schutztruppe Isaf dementiere die Zahl von 125 Toten.

Auch Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) wehrte sich gegen Vorwürfe eines schlechten Krisenmanagements. Berichte, wonach bei dem Luftangriff auf zwei von den Taliban gekaperte Tanklaster 125 Menschen - darunter auch Zivilisten - getötet worden sein sollen, wies Jung erneut zurück. Ein Bericht des Gouverneurs von Kundus weise 56 Tote und 12 Verletzte aus, sagte er am Sonntag. "Der Bericht sagt, dies seien Taliban", so Jung.

Doch dies sind nicht die einzigen Unstimmigkeiten zwischen den Darstellungen aus Berlin und aus Washington. In dem Bericht der Washington Post heißt es weiter, die Entscheidung, den Bombenangriff anzuordnen, fiel zum großen Teil aufgrund der Einschätzung eines einzigen afghanischen Informanten. Jung hingegen hatte zuvor gegenüber der Bild am Sonntag noch von einer "detaillierten Aufklärung" über "mehrere Stunden hinweg" gesprochen.

Nun fordert die Opposition im Bundestag Klärung: Die Grünen wollen von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) eine Regierungserklärung zum Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan noch vor der Bundestagswahl am 27. September. Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Jürgen Trittin kritisierte, Merkel und Jung beschwichtigten und vertuschten die Wahrheit über den von der Bundeswehr angeordneten Luftangriff bei Kundus: "Sie verwickeln sich in immer mehr Widersprüche."

Merkel müsse sich ihrer Verantwortung stellen. "Sie muss gegenüber dem Bundestag in der kommenden Woche eine Regierungserklärung zu dem Bombardement abgeben." Es könne ihr nicht gleichgültig sein, wenn die Bundesrepublik wegen des Luftangriffs in der Europäischen Union offener Kritik ausgesetzt sei. Die Grünen würden angesichts der Lage in Afghanistan Sondersitzungen des Auswärtigen Ausschusses, des Verteidigungsauschusses und des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit in der kommenden Woche beantragen.

Die Linke beantragten für Dienstag eine Aktuelle Stunde des Bundestages zum Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan. "Die bisherige Desinformationspolitik der Bundesregierung (...) macht es erforderlich, dass sich das Parlament unverzüglich damit befasst", teilte die Parlamentarische Geschäftsführerin der Linken-Fraktion, Dagmar Enkelmann, in Berlin mit. "Die Tötung und Verletzung zahlreicher Zivilisten ist eine dramatische Zuspitzung des Kriegseinsatzes der Bundeswehr in Afghanistan."

Die Vorsitzende des Bundestags-Verteidigungsausschusses, Ulrike Merten (SPD), kritisierte die Informationspolitik von Jung scharf. "Ich finde es mehr als kritikwürdig, dass es bisher keine weitergehenden Informationen gegenüber dem Parlament gegeben hat", sagte sie der Saarbrücker Zeitung. Es könne nicht sein, dass sich der Minister gegenüber den Medien mit Details und Einschätzungen äußere, nicht aber gegenüber dem Bundestag. "Das geht nicht", sagte Merten. Jung erwecke den Eindruck, "hier wird etwas vertuscht".

Verstoß gegen Isaf-Regeln?

Die Bundeswehr sieht sich auch dem Vorwurf konfrontiert, womöglich gegen eine Direktive verstoßen zu haben, die Teil der neuen Nato-Strategie ist, wonach die Zahl ziviler Opfer sinken solle. Demnach darf die Nato keine Wohngebäude bombardieren, wenn sie nur eine Informationsquelle hat.

Zudem müssen die Truppen die Situation genau beobachten, um sicherzustellen, dass keine Zivilisten in der Nähe sind. Nach der neuen taktischen Anweisung der Nato sollen die Isaf-Länder Luftangriffe nur als letztes Mittel anordnen. Legitim sind solche Angriffe etwa dann, wenn es ein hohes Risiko für Tote unter den eigenen Soldaten gibt.

Auch wenn diese Direktive bisher nicht für Luftangriffe außerhalb von Wohngebieten gelte, so wolle der neue Isaf-Kommandeur doch diese Standards für alle Luftangriffe durchsetzen. Einzige Ausnahme sei eine unmittelbare Gefahr für die eigenen Truppen.

Taliban bedrohten Dorfbewohner

Ein Reporter der Washington Post, der mit dem Erkundungsteam reisen durfte, berichtete auch von mehreren verletzten Dorfbewohnern, darunter ein 10-jähriger Junge. Sie seien teils von den Taliban gezwungen worden, dabei zu helfen, die im Schlamm feststeckenden Tanker wieder freizubekommen, teils seien sie aus Neugier angerannt gekommen.

"Sie kamen zu jedem hier, um uns um Hilfe zu bitten", erzählt ein Ladenbesitzer, der sechs seiner Cousins bei dem Bombenangriff verloren hat. Keiner davon, so sagte er dem Reporter der Washington Post, sei ein Aufständischer gewesen. "Sie begannen, die Menschen zu schlagen und uns mit Waffen zu bedrohen. Sie sagten, bringt Eure Traktoren und helft uns. Was sollten wir denn dagegen tun?", zitiert die Washington Post den Mann.

Der Kommandeur des Bundeswehr-Lagers in Kundus, Oberst Georg Klein, hatte am Freitag beim Hauptquartier der internationalen Schutztruppe Isaf Luftunterstützung angefordert, nachdem die Taliban zwei Tanklastzüge entführt hatten. Er befahl auch den Angriff. Klein hatte befürchtet, die Taliban-Kämpfer könnten die Tanklastzüge für einen Anschlag gegen das deutsche Feldlager nutzen.

In der Bild am Sonntag stellte sich Verteidigungsminister Jung hinter den Kommandeur: "Durch sehr detaillierte Aufklärung über mehrere Stunden durch unsere Kräfte hatten wir klare Hinweise darauf, dass die Taliban beide Tanklastzüge circa sechs Kilometer von unserem Lager entfernt in ihre Gewalt gebracht haben, um einen Anschlag auf den Stützpunkt unserer Soldaten in Kunduz zu verüben. Wäre ihnen das gelungen, hätte es einen Anschlag mit entsetzlichen Folgen für unsere Soldaten gegeben. Deshalb halte ich die Entscheidung des deutschen Kommandeurs vor Ort für richtig."

Die Staatsanwaltschaft Potsdam prüft nun, ob ein Ermittlungsverfahren Kommandeur eingeleitet werden muss. Der leitende Oberstaatsanwalt Heinrich Junker bestätigte dies der Bild am Sonntag.

Darüber hinaus soll untersucht werden, inwieweit Kommunikationsprobleme zwischen Bundeswehrsoldaten und den US-Streitkräften eine Rolle gespielt haben. Die geplante Untersuchung der Militäraktion vom Freitag müsse auch der Frage möglicher Sprachbarrieren zwischen den deutschen Kommandeuren in Kundus und den amerikanischen Piloten der eingesetzten Flugzeuge nachgehen, sagte US-Konteradmiral Gregory Smith, der Sprecher von Nato-Kommandeur Stanley McChrystal. Es sei noch nicht entschieden, welche Nation die Untersuchung leiten solle. Geplant sei auch die Mitwirkung afghanischer Behördenvertreter.

Seit der Militäraktion von Freitag hagelt es Kritik an der Bundeswehr aus dem In- und Ausland. Die Europäische Union (EU) sprach am Samstag von einer "Tragödie". Der schwedische Außenminister Carl Bildt sagte für die EU- Ratspräsidentschaft zu dem Bombenangriff: "Wir gewinnen diesen Krieg nicht, indem wir töten." Frankreichs Außenminister Bernard Kouchner sprach von einem "großen Fehler": "Wir müssen mit ihnen zusammenarbeiten statt sie zu bombardieren. Sie müssen die Sache genau untersuchen." Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn kritisierte: "Ich verstehe nicht, dass Bomben so einfach und so schnell abgeworfen werden können."

"Verteidigungsminister an die Kette legen"

Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) forderte in der Bild am Sonntag restlose Aufklärung. "Gegen verbrecherische Terroristen muss entschieden vorgegangen werden. Gleichzeitig müssen wir aber alles tun, um unschuldige zivile Opfer zu vermeiden." Der FDP-Verteidigungsexperte Jürgen Koppelin verlangte eine ehrliche Debatte über den deutschen Afghanistan-Einsatz. Es handele sich um einen Krieg. Linken-Fraktionschef Gregor Gysi kritisierte die Informationspolitik: "Während in Afghanistan die toten und verletzten Zivilisten betrauert werden, versucht sich die Bundeswehrführung und das Verteidigungsministerium weiter im Verschleiern."

© sueddeutsche.de/dpa/AFP/AP/hai/cmat/segi - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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