Lüge und Politik:Die Wahrheit ist den Menschen zuzumuten

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Der russische Präsident Wladimir Putin hat gelogen, beim Griff nach der Krim und auch beim Krieg in der Ostukraine. (Foto: AFP)

Lüge und Misstrauen entfalten heute eine ungeheure Macht, sie zerstören das Zusammenleben von Menschen und die Beziehungen zwischen Staaten. Wie konnte es so weit kommen? Und was lässt sich dagegen tun?

Ein Kommentar von Stefan Ulrich

Am Anfang war die Lüge, jedenfalls ziemlich am Anfang. Wenn du vom Baum der Erkenntnis isst, wirst du nicht sterben, sondern werden wie Gott, sagte die Schlange. Weiß Gott, was geschehen wäre, wenn Eva dies ignoriert hätte. So aber wurden die Menschen aus dem Garten Eden vertrieben, und mit ihnen kam die Lüge in die Welt.

Die Lüge - und ihre elegante Schwester namens List - machten Karriere, in Mythologie und Geschichte. Sie verhalfen Jakob zum Erstgeburtssegen seines Vaters Isaak. Sie verschafften den Griechen mithilfe eines hölzernen Pferdes den Sieg über Troja. Später rechtfertigten die Päpste ihren Herrschaftsanspruch mit einer gefälschten Urkunde über eine Konstantinische Schenkung. Adolf Hitler behauptete, Polen habe Deutschland angegriffen. Walter Ulbricht wollte nie eine Mauer bauen.

Der Siegeszug von Demokratie und Pressefreiheit sowie das Ende des Kalten Krieges schienen die Lüge dann zurückzudrängen. Doch das war eine Illusion. Heute entfaltet die Lüge solche Macht, dass die internationalen Beziehungen und die offenen Gesellschaften an ihr zu ersticken drohen.

Die Lüge von US-Präsident George W. Bush, der irakische Diktator Saddam Hussein besitze Massenvernichtungswaffen, beschädigte die Glaubwürdigkeit der westlichen Führungsmacht fundamental. Die Lügen des russischen Präsidenten Wladimir Putin beim Griff nach der Krim und beim Krieg in der Ostukraine zerstören das Vertrauen unter den Europäern. Beschönigungen und Beschwichtigungen in der Finanz- und Euro-Krise und bei der Gestaltung der Globalisierung treiben viele Bürger in die Arme von Protestgruppen, die ein Monopol auf Wahrheit für sich in Anspruch nehmen.

Populisten, Verschwörungstheoretiker und Wutbürger nutzen die Lügen

Populisten, Verschwörungstheoretiker und Wutbürger nutzen die Lügen Einzelner aus, um ganze Berufsgruppen unter Generalverdacht zu stellen. Unternehmern wird pauschal vorgeworfen, ihnen gehe es nur um hemmungslose Selbstbereicherung. Politikern der traditionellen Parteien wird unterstellt, sie wirkten als Büttel des Kapitals oder der Amerikaner dabei mit, Europas Bürger zu betrügen. Die klassischen Medien werden als "Lügenpresse" abqualifiziert, um ihre Argumente ignorieren zu können.

In und zwischen vielen europäischen Ländern herrscht ein Klima des Argwohns, geschürt von Kräften wie Pegida, dem französischen Front National oder Wladimir Putin. Die Lügen und die inflationären Lügen-Vorwürfe zersetzen den Zusammenhalt. Sie schwächen die Demokratie, unterminieren die europäische Einigung und gefährden den Frieden zwischen Ost und West.

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:Die Lüge gehört wieder zur Politik, wie konnte es so weit kommen?

Der Siegeszug von Demokratie und Pressefreiheit sowie das Ende des Kalten Krieges schienen die Lüge zurückzudrängen. Doch das war eine Illusion. Heute entfaltet sie solche Macht, dass die internationalen Beziehungen und die offenen Gesellschaften an ihr zu ersticken drohen.

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Wie konnte es so weit kommen? Und was lässt sich dagegen tun? Vor einer Antwort muss ein kleines Lob der Lüge stehen. Lügen sind nicht immer von Übel, auch wenn Augustinus und Immanuel Kant das befanden. Sie können barmherzig sein, wenn ein Arzt einen Patienten nur allmählich und behutsam über seine tödliche Krankheit aufklärt. Sie können Beziehungen retten und, in Form von Höflichkeitsfloskeln, das Zusammenleben von Menschen erleichtern. Wer im Betrieb (oder beim Staatsbesuch) einem Rivalen verlogen "Guten Tag" wünscht, tut daran besser, als wahrheitsgemäß "Geh zum Teufel" zu rufen.

Lügen können Leben retten, wenn sie dazu dienen, eine Massenpanik zu verhindern. Lügen können lässliche Sünden sein, weil alle damit rechnen - etwa in der Waschmittelwerbung. Und Lügen können aus eigener Kraft zur Wahrheit werden. Im Oktober 2008 versicherten Kanzlerin Angela Merkel und der damalige Finanzminister Peer Steinbrück den Bürgern, die Spareinlagen seien sicher. Das war zu jenem Zeitpunkt eine Lüge. Doch weil sie viele glaubten, wurde sie zur Wahrheit.

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Lügen können also akzeptabel sein, wenn sie dem friedlichen Miteinander dienen, Katastrophen abwenden, Leid verhindern. Sie werden verwerflich, wenn sie den Belogenen schaden. Und sie werden gefährlich, wenn sie zum Normalfall werden und allgemeine Verunsicherung schüren. Wenn jeder jedem ständig Lügen unterstellt, ist ein vernünftiges Zusammenleben kaum mehr möglich. Die Entwicklung geht jedoch dahin: weil die komplizierte Welt mit ihren fallenden Grenzen verunsichert und manchmal übermäßig misstrauisch macht; weil der Konkurrenzkampf zur Täuschung verleitet; weil Politiker zu oft glauben, dass die Bürger nicht die volle Wahrheit vertragen; weil Journalisten Vermutungen als Tatsachen ausgeben; weil das Internet es jedem Unfug ermöglicht, ungefiltert ein großes Publikum zu finden; weil begnadete Demagogen wie Putin die Öffentlichkeit so lange mit Lügen bombardieren, bis diese an keine Wahrheit mehr glauben mag.

Doch der Marsch in eine paranoide, postdemokratische, autoritär geführte Gesellschaft ist nicht unumkehrbar. Es ist schwer, verlorenes Vertrauen wiederherzustellen, aber es ist möglich.

Als Erstes gilt es dabei, die Lüge von der grundsätzlich verlogenen Politik und der "Lügenpresse" zu entlarven. Ja, Politiker und Journalisten täuschen sich, wie andere Menschen, immer wieder; und einige lügen, bisweilen auch aus niedrigen Motiven. Sie alle pauschal als Lügner hinzustellen, ist jedoch eine gehässige Verleumdung. Deren Urheber wissen das genau.

"Wenn es ernst wird, muss man lügen"

Zweitens muss der Mut zur ungeschminkten Wahrheit wachsen. Der heutige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sagte einmal: "Wenn es ernst wird, muss man lügen." Das Gegenteil hat ein anderer wichtiger Politiker bewiesen - Winston Churchill mit seiner schonungslos ehrlichen Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede im Zweiten Weltkrieg.

"Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar", mahnte die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann. Das ist ein guter Leitsatz, auch für Politiker und Journalisten. Zur Wahrheit gehört, dass Putin Krieg in der Ukraine führt, die Globalisierung auch vielen Menschen Nachteile bringt, die Lasten der Finanzkrise nicht gerecht verteilt sind, der Euro noch nicht gerettet ist und Griechenland vielleicht aus der gemeinsamen Währung ausscheidet. Letzteres hat Finanzminister Wolfgang Schäuble am Freitag eingeräumt. Weiter so.

© SZ vom 14.03.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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