Lübcke-Prozess:"Sagen Sie uns die Wahrheit!"

Prozess im Mordfall Lübcke: Irmgard Lübcke im Gerichtssaal

Irmgard Braun-Lübcke, Ehefrau des ermordeten Walter Lübcke, hat am Montag vor dem Oberlandesgericht Frankfurt ausgesagt.

(Foto: dpa)

Die Witwe von Walter Lübcke beschwört die Angeklagten im Gerichtssaal, über den Tod ihres Mannes auszusagen. Einer schluchzt, der andere wirkt nicht interessiert.

Von Annette Ramelsberger, Frankfurt

Es war ihr letzter gemeinsamer Tag, nur wussten sie es nicht. Walter Lübcke goss den Gemüsegarten, seine Frau spielte mit dem kleinen Enkel, dann kam noch ein befreundeter Pfarrer auf die Terrasse. "Wir haben so viel gelacht", sagt Irmgard Braun-Lübcke. Am Abend brachte sie den Enkel ins Bett, er war das erste Mal bei den Großeltern. Da wollten Irmgard und Walter Lübcke alles richtig machen. "Ich leg mich zu dem Kleinen ins Bett", sagte sie zu ihrem Mann. Und er sagte, er gehe noch mal raus auf die Terrasse, auf seinen Lieblingssessel. "So haben wir uns verabschiedet", sagt die Witwe im Gerichtssaal des Oberlandesgerichts Frankfurt. Es war ihr letztes Gespräch.

Walter Lübcke, 65, wurde in dieser warmen Nacht des 1. Juni 2019 von dem Neonazi Stephan Ernst auf seiner Terrasse getötet, mit einem Schuss in den Kopf. Ernst hatte den Regierungspräsidenten von Kassel mit seinem Hass verfolgt, weil der vier Jahre zuvor auf einer Bürgerversammlung gesagt hatte, man müsse christliche Werte hochhalten, Flüchtlinge aufnehmen, und weil er rechtsradikalen Störern vorgehalten hatte, sie könnten Deutschland ja auch verlassen. Unter den Störern waren Stephan Ernst und sein Kumpel Markus H., der stellte das Video mit Lübckes Aussage ins Netz. "Ich hab' meinen Mann selten verzweifelt gesehen", sagt seine Witwe am Montag. "Aber nach dieser Veranstaltung war er unglücklich und verärgert. Das hat ihn berührt." Lübcke hatte Angst, dass vielleicht jemand einen Farbbeutel aufs Haus werfen würde, machte sich Gedanken um seine Familie, aber er selbst, so sagt seine Witwe, habe keine wirkliche Angst gehabt.

Sie dachte an einen Herzinfarkt, aber nicht an einen Mord

Die Witwe von Walter Lübcke ist eine zierliche Frau von 67 Jahren, die zwischen ihren großen, kräftigen Söhnen fast klein wirkt. Aber sie sitzt da mit großer Disziplin. Jahrzehntelang war sie Lehrerin an einer Berufsschule, sie wollte im Ruhestand mit ihrem Mann reisen, sich mit ihm um die Familie kümmern. Sie erzählt, wie sie in der Todesnacht von ihrem Sohn Jan-Hendrik geweckt wurde. "Komm, der Papa...". Da wusste sie, dass etwas passiert war. An einen Herzinfarkt habe sie gedacht, "aber doch kein Mord!", ruft sie laut in den Gerichtssaal, dann drückt sie sich ein Taschentuch an die Augen.

"Was bedeutet der Tod Ihres Mannes für die Familie?", fragt Richter Thomas Sagebiel. Die Witwe knetet das Taschentuch in ihrer Hand. Sie versucht, die Stimme ruhig zu halten. Es gelingt ihr nicht. "Er fehlt uns unendlich, den Jungs ganz besonders", sagt sie. "Jetzt ist ihm sein Opa-Sein genommen worden, durch diesen fiesen, perfiden Mord." Und dann fügt sie zwei Sätze hinzu, die zeigen, dass auch eineinhalb Jahre nach dem Mord nichts gut ist im Leben der Familie Lübcke - auch wenn sie weiter in ihrem Haus wohnen, wo der Vater ermordet wurde, weiter dort leben, um ein Zeichen für den Vater zu setzen: "Ich weiß nicht, wie wir es schaffen, wieder in ein normales Leben zurückzukommen", sagt die Witwe. "Das Haus ist nicht mehr das Haus. Das Leben ist nicht mehr das Leben."

Das Grinsen des Angeklagten H.: "Das ist verletzend, nicht nur für uns, für uns alle", sagt sie

Dann wendet sich diese freundliche, gebeutelte Frau an die Angeklagten, vor allem an einen. An Markus H., 44, dem vorgeworfen wird, "psychische Beihilfe" zum Mord an Walter Lübcke geleistet zu haben. Markus H. hat das Video von der Bürgerversammlung ins Netz gestellt, er hat - so sagt das der Hauptangeklagte Stephan Ernst - ihn immer wieder aufgehetzt gegen Lübcke. "Aus Worten werden Taten", sagt die Witwe.

Und dann schildert sie, wie das für sie ist, jeden Tag wieder ins Gericht zu kommen und den Angeklagten ins Gesicht zu sehen. Vor allem Markus H., der oft selbstgefällig grinst. "Es ist schwer auszuhalten, dass sich der Angeklagte H. nicht mit einer Silbe äußert", sagt die Witwe. "Und dann sein Benehmen, mit diesem Grinsen, völlig unvorstellbar, das ist verletzend, nicht nur für uns, für uns alle." Markus H. grinst in diesem Moment einmal nicht. Er blickt sie ernst an.

Dann wendet sich die Witwe auch an Stephan Ernst. Es sei so schrecklich, dass er zu Prozessbeginn gesagt habe, er würde alle Fragen der Familie beantworten, aber noch immer wüssten sie nicht, ob ihr Mann dem Angeklagten H. auf der Terrasse noch ins Gesicht gesehen habe. Ob die Angeklagten noch gesprochen haben mit ihrem Mann. Warum er sich nicht verteidigen konnte, der große, starke Mann. "Wir möchten die volle Wahrheit wissen. Das könnte uns vielleicht helfen, das zu verarbeiten. Wir brauchen das." Sie sagt das fast flehentlich.

Da greift der Angeklagte Stephan Ernst nach seinem Mikrofon. Er zerdrückt es fast in seinen Händen. Seine Stimme klingt wie ein Knirschen. "Es tut mir leid", presst er hervor. "Im Herzen Tag für Tag." Er schluchzt. "Sagen Sie uns die Wahrheit", ruft Irmgard Braun-Lübcke. Sie schluchzt jetzt auch. "Wenn Sie diese Situation erleben würden, was Sie dann an Fragen hätten", spricht sie ihn an. "Versetzen Sie sich an meinen Platz." Antworten solle er, die Wahrheit sagen. "Tun Sie's doch! Helfen Sie wenigstens da!"

Man hört nun auch von der Bank, wo die Söhne der Familie Lübcke sitzen, lautes Schluchzen.

"Das entspricht jetzt nicht ganz der Strafprozessordnung", sagt der Richter. "Entschuldigung", sagt die Witwe und fängt sich wieder. Der Richter sagt: "Sie haben keinen Grund, sich zu entschuldigen." Der Richter macht eine Pause. Stephan Ernst putzt sich die Nase. Er bleibt wie erschlagen auf seinem Stuhl sitzen. Markus H. schlendert aus dem Saal, die Hände in den Hosentaschen. Seit Oktober ist er auf freiem Fuß. Das Gericht sieht keinen dringenden Tatverdacht.

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