Süddeutsche Zeitung

Meinung am Mittag: Lübcke-Prozess:Vor lauter Einzeltätern darf man nicht die Netzwerke dahinter übersehen

Der Mitangeklagte im Lübcke-Prozess kommt frei - demokratiefeindliche Gesinnung allein ist nicht strafbar. Und so bleibt auch in diesem Fall als Täter nur ein einsamer Wolf. Wenn er verurteilt wird, darf das nicht der Schlusspunkt sein.

Kommentar von Annette Ramelsberger

Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht. Der Hauptangeklagte im Lübcke-Prozess in Frankfurt, Stephan Ernst, hat nicht nur einmal gelogen, sondern nachweislich zweimal. Und das Oberlandesgericht Frankfurt glaubt nun auch sein drittes Geständnis nicht mehr - gut für seinen Mitangeklagten Markus H., einen überzeugten Neonazi, der nun auf freien Fuß kommt.

Ernst hatte in seinem ersten Geständnis auf Anraten seines rechten Szeneanwalts erklärt, er habe den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke vor einem Jahr ganz allein erschossen. Im zweiten und im dritten Geständnis war dann auch sein Kumpel Markus H. am Tatort mit dabei. Dafür spricht viel, aber es lässt sich nicht beweisen. Von Markus H. gibt es kein Haar, keine Hautschuppe, kein Handysignal am Tatort.

Niemand außer dem leicht beeinflussbaren, wiederholt lügenden Angeklagten Ernst kann bezeugen, dass Markus H. mit ihm auf der Terrasse von Lübcke war. Ernsts Beschreibung, wie die beiden angeblich gemeinsam den Mord planten, ist nicht nur in den Augen der Richter dünn, sie haben Zweifel. Und der eherne Grundsatz vor Gericht heißt: Im Zweifel für den Angeklagten. Davon profitiert Markus H.

Aber so bleibt auch im Fall Lübcke wieder nur der Einzeltäter, der die Tat allein verübt haben soll. Der einsame Wolf, der angeblich niemandem etwas von seiner Tat gesagt hat. Und das Netzwerk, das ihn unterstützt, befeuert, angestiftet hat, bleibt außen vor - ein Netzwerk, in das Ernst und Markus H. seit Jahren verstrickt sind, und das Bezüge zum rechtsradikalen NSU hatte.

Die Freilassung von Markus H. erinnert in bitterer Weise an den Angeklagten André Eminger im NSU-Prozess, der sich als "Nationalsozialist mit Haut und Haaren" bezeichnete und als engster Vertrauter des Terrortrios galt. Dennoch verließ er als freier Mann das Gericht. Er hatte wie Markus H. die ganze Zeit geschwiegen. Seine braunen Kameraden klatschten bei der Urteilsverkündung Beifall.

Das Strafrecht allein reicht nicht

Auch Markus H. zeigt jeden Tag im Gericht zu Frankfurt, wie sehr er den Staat und die Justiz verachtet. Aber demokratiefeindliche Gesinnung allein ist nicht strafbar, es müssen konkrete Taten hinzukommen. Wenn einer raffiniert genug ist, sich die Finger nicht schmutzig zu machen, hat es die Justiz schwer - selbst wenn er wie Markus H. eine Dose Zyklon B als Bleistifthalter auf dem Tisch stehen hat.

Fälle wie die von Eminger und Markus H. zeigen, dass man sich nicht auf das Strafrecht allein verlassen darf, um diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die zum Hass aufstacheln und wohlgefällig zuschauen. Hier müssen Untersuchungsausschüsse weitermachen, im Fall des Mordes an Walter Lübcke der des Hessischen Landtags. Dort muss besprochen werden, warum es niemandem auffiel, dass einer wie Stephan Ernst an Arbeitskollegen Waffen verkauft hat, und warum es niemand für eigenartig hielt, dass sich angeblich stinknormale Leute in Deutschland für den Bürgerkrieg rüsten.

Wenn Stephan Ernst verurteilt wird, und daran besteht kein Zweifel, darf das nicht der Schlusspunkt sein. Es ist erst der Anfang der Aufklärung - nicht dass man vor lauter Einzeltätern wieder einmal die Netzwerke dahinter übersieht. Die bestehen weiter, wenn die Täter selbst längst in Haft sind.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5051546
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 02.10.2020/gal
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.