Markus H. hat an diesem Morgen sein grünes Hoodie angezogen und einiges Selbstbewusstsein übergestreift. Er plaudert mit seiner Anwältin, klappt das Laptop auf, lehnt sich zurück: Die Sache läuft gut für ihn. Um viertel nach zehn verkündet Richter Christoph Koller für den fünften Strafsenat des Frankfurter Oberlandesgerichts: Der Haftbefehl gegen H. ist aufgehoben. Der Angeklagte ist, so das Gericht, nicht mehr dringend verdächtig, beim Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke geholfen zu haben. Erst recht stehe er nicht mehr im Verdacht, Mittäter des mutmaßlichen Mörders Stephan Ernst zu sein. Die verbleibende Vermutung, H. habe an einer nicht schussfähigen Maschinenpistole herumgebastelt, genüge nicht, ihn weiter in Untersuchungshaft zu halten.
Es ist ein schlechter Tag für die Bundesanwaltschaft. Sie ging in ihrer Anklageschrift davon aus, H. habe gewusst, dass sein einstiger Arbeitskollege und Freund Ernst plane, Walter Lübcke etwas anzutun - und ihn dabei unterstützt. Es ist ein furchtbarer Tag für die Angehörigen des ermordeten CDU-Politikers, deren Plätze im Gericht leer bleiben. Die Entscheidung sei "kaum zu ertragen", lässt die Familie mitteilen; sie gehe nach wie vor davon aus, "dass die Tat von beiden Angeklagten gemeinschaftlich verübt worden ist". Holger Matt, der Vertreter der Nebenklage, hat noch am Mittwochabend erklärt, die Art, wie Lübcke von hinten erschossen worden sei, lege nahe, dass er von zwei Personen bedrängt worden sei. Eine These, die dem Gericht nicht stark genug erschien.
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In den nunmehr 20 Verhandlungstagen haben die verschiedenen Zeugen und die Fundstücke der Hausdurchsuchung kein vorteilhaftes Bild des 44-jährigen Markus H. gezeichnet: ein ideologisch gefestigter Neonazi und Rassist, der in einer Art Wohnhöhle voller Naziliteratur und Waffen lebte. Ein Zyniker, auf dessen Schreibtisch eine leere Dose des Giftes Zyklon B stand, mit dem Hitlers Schergen Juden ermordeten; ein Egozentriker, den Waffen mehr interessierten als sein Kind. H. brachte Ernst in die rechte Szene zurück, er besuchte mit ihm einen AfD-Stammtisch, fuhr mit ihm zu AfD-Demos. Gemeinsam besuchten sie jene Bürgerversammlung, auf der Lübcke sagte, dass es jedem freistehe, das Land zu verlassen, wenn er dessen Werte nicht teile; gemeinsam übten sie in zwei Schützenvereinen Schießen; H. besorgte Ernst eine Waffe und trug sie auf seinem Waffenschein ein.
Die Geständnisse von Stephan Ernst widersprechen sich
Das alles aber belegt nicht, dass H. bei der Tat half oder gar dabei war, als Ernst Walter Lübcke erschoss. Es gibt keine Spuren von ihm am Tatort in Wolfhagen-Istha oder an der Tatwaffe; das bestätigt an diesem Donnerstag der Sachverständige aus dem Wiesbadener Landeskriminalamt, der den DNA-Spuren am Tatort nachging. Die zwei Hautschuppen, die sich auf dem blutgetränkten Kurzarmhemd des Ermordeten fanden, sind Stephan Ernst zuzuordnen: Partikel 184 führte zur Festnahme des Verdächtigen, Partikel 401 belegte die Vermutung, dass Ernst Körperkontakt mit Lübcke hatte.
Es haben letztlich wohl ausgerechnet die ungereimten Aussagen zweier Belastungszeugen dazu geführt, dass Markus H. nun ein freier Mann ist und auch insgesamt auf einen Freispruch hoffen kann. In seinem dritten und aus seiner Sicht finalen Geständnis hatte Stephan Ernst seinen Kumpel H. schwer belastet: Er habe die Tat mit ihm über Wochen geplant und sei mit ihm auf Lübckes Terrasse gewesen, um den Regierungspräsidenten wegen seiner Aussagen auf der Bürgerversammlung zur Rede zu stellen und ihm Gewalt anzutun. Allerdings: In den vorigen Geständnissen hatte Ernst andere Versionen vom Tatgeschehen aufgetischt. Im ersten hatte er H. nur erwähnt, aber nicht ausdrücklich belastet, im zweiten ihn dagegen bezichtigt, der Schütze gewesen zu sein. Auch das dritte Geständnis enthielt zahlreiche Ungereimtheiten. Es sei, so das Gericht, gerade in Bezug auf H. "äußerst detailarm geblieben" und auch auf Nachfragen hin nicht stimmig geworden.
"Wir haben Sie bei einer dicken, fetten Lüge erwischt"
Und auch die Aussagen der ehemaligen Lebensgefährtin von H. erwiesen sich als weich wie Brei: Sie hatte noch gegenüber den Ermittlern gesagt, H. sei der Kopf und Ernst der Ausführende in einer geradezu symbiotischen Freundschaft gewesen. Dies relativierte sie in der Zeugenvernehmung: Eigentlich seien sie doch mehr Kumpels und in ihren politischen Debatten gleichrangig gewesen. Und dass H. mal gesagt habe, man solle den Lübcke aufhängen, sei ohne konkrete Tatabsicht gefallen und nicht im Beisein von Ernst. Als die Zeugin mehrmals offensichtlich die Unwahrheit sagte, unter anderem über ihre eigene rechtsradikale Gesinnung, platzte dem Vorsitzenden Richter Thomas Sagebiel irgendwann der Kragen: "Wir haben Sie bei einer dicken, fetten Lüge erwischt", herrschte er sie einmal an.
Markus H. wird weiter an den Verhandlungen teilnehmen müssen, stellt der Vorsitzende Richter Sagebiel klar - die Familie Lübcke hat an H. appelliert, sein bisheriges Schweigen zu brechen. Oberstaatsanwalt Dieter Kolmer kündigt am Donnerstag an, Beschwerde gegen den Beschluss einzulegen. Er sei nach wie vor überzeugt, dass gegen H. "der dringende Tatverdacht besteht".