Süddeutsche Zeitung

Prozess zum Lübcke-Mord:Neuer Tag, neue Version

Schon Wochen vor der Tat hatten Stephan Ernst und sein Mitangeklagter geplant, den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke zu töten - sagt Ernst zumindest am Freitag plötzlich vor Gericht.

Von Annette Ramelsberger, Frankfurt

Grillen nennt man es in einem Untersuchungsausschuss, wenn dort Minister im Feuer Dutzender Abgeordneter stehen. Nur wer den Fragen gewachsen ist, kommt da halbwegs heil heraus.

Auch die Richter und die Richterin des Staatsschutzsenats am Oberlandesgericht Frankfurt haben am Freitag gegrillt, nicht Minister, sondern einen Angeklagten: Stephan Ernst, der vor einem Jahr den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke ermordet haben soll, nachts auf dessen Terrasse, weil er ihn als Repräsentanten einer liberalen Flüchtlingspolitik bestrafen wollte. Der Neonazi Ernst hat Lübcke für die Überfremdung Deutschlands und islamistische Verbrechen in aller Welt verantwortlich gemacht, so sagt er selbst.

Dieser Stephan Ernst hatte am Mittwoch ein Geständnis abgelegt, sein drittes. Im ersten erklärte er, er habe Lübcke allein erschossen, ganz spontan. Im zweiten dann, sein Freund Markus H., ebenfalls ein Neonazi, sei der Schütze gewesen, aber der Schuss sei versehentlich losgegangen.

Jetzt sagt er: Er und H. gingen gemeinsam zum Tatort, planten gemeinsam, auf Lübcke zu schießen. Aber er, Stephan Ernst, habe dann abgedrückt. Da H. nichts dazu sagt, insgesamt schweigt und im Gerichtssaal nur spöttisch lächelt, versuchen die Richter alles, um diese Variante mit den Indizien am Tatort abzugleichen. Sie fragen.

Was sie am Freitag aus Ernst herauskitzeln, lässt die Sache in einem wieder neuen Licht erscheinen. "Warum sind Sie unmaskiert zu Herrn Lübcke gegangen?", fragt der Vorsitzende Richter Thomas Sagebiel. "Wir sahen das nicht als Risiko", antwortet Ernst.

"Man könnte auf den Gedanken kommen", entgegnet der Richter, "dass Sie deshalb kein Risiko darin sahen, weil Herr Lübcke auf jeden Fall sterben sollte. Ist das so zwischen Ihnen und Herrn H. besprochen worden?" Kurz bespricht sich Ernst mit seinem Anwalt. Dann sagt er zum Richter: "Es ist so, wie Sie es sagen."

Der Angeklagte erzählt nun, dass nichts an dieser Tat spontan war

Der Richter setzt nach: "Ist das thematisiert worden zwischen Ihnen?" Und Ernst antwortet: "Wir haben darüber gesprochen, dass wir ihn ..." Das Wort "töten" sagt er nicht.

Am Mittwoch hatte Ernst noch erklärt, sie hätten Lübcke nur eine "Abreibung" verpassen wollen, und sein Freund Markus H. habe ihm gesagt, nur wenn Lübcke ihnen "blöd kommt", solle er schießen. Ein Richter setzt nach: Dann stimme das wohl nicht, sondern H. habe dann wohl zu ihm gesagt: "Du schießt auf jeden Fall." Ernst antwortet: "Ja."

Was der Angeklagte damit ausdrückt: Er und sein Freund haben von Anfang an den Vorsatz gehabt, den Regierungspräsidenten zu töten. Und sie haben es wohl bereits Wochen vorher vereinbart.

Ernst gibt am Freitag auch an, dass nichts an der Tat spontan war. Dass sich die beiden Freunde bereits im April getroffen und verabredet hätten, Lübcke zu töten. Dass sie sich Anfang Juni während der Kirmes in dessen Wohnort Wolfhagen-Istha unter die Leute mischen und nach ihm Ausschau halten, dass sie ihn dann nach Hause verfolgen und angreifen wollten.

Jener Tag im April sei auch der Tag gewesen, als "Markus mir sagte, dass wir eine Waffe mitnehmen", berichtet Ernst. Schon damals, im April, hätten sie sich überlegt, dass die Kirmes ein guter Zeitpunkt für ihren Plan sei, auch wegen der Geräuschkulisse. "Dass man den Schuss nicht hört", sagt Ernst. Und weil dann so viele Menschen in dem Dorf seien. Da fielen sie weniger auf.

Für Markus H. sind die neuen Geständnisse seines inzwischen ehemaligen Freundes Stephan Ernst äußerst problematisch. H. verhielt sich bisher so, als ginge ihn die ganze Sache nichts an.

Von ihm wurden ja auch keine DNA-Spuren am Tatort gefunden, von Ernst schon. Allerdings belastet ihn seine ehemalige Lebensgefährtin schwer. Sie sagte in einer Vernehmung, Markus H. habe ihr gesagt, man müsse Lübcke aufhängen.

Markus H., 44, ist seit vielen Jahren in der rechten Szene Kassels verwurzelt. Stephan Ernst nannte ihn schon am Mittwoch seinen "Mentor", er habe sich ihm untergeordnet, ohne ihn wäre er nicht auf die Terrasse von Walter Lübcke gegangen.

Markus H. habe auch das Kommando gegeben: "Los, dann machen wir das jetzt." Und der Freund habe kurz vor dem Schuss zu ihm, Ernst, gesagt: "Wenn er blöd kommt, dann schießt du." Das zumindest kann nach dem neuesten Geständnis nicht mehr stimmen.

Die Bundesanwaltschaft wirft Markus H. bisher "psychische Beihilfe" zum Mord vor. Er hatte mit Stephan Ernst im Wald das Schießen geübt, er hatte ihn - so die Anklage - angeheizt und radikalisiert. Er habe gewusst, dass Ernst gegen einen Politiker losschlagen wollte. Aber dass Markus H. mit am Tatort war, dafür hatte die Anklage bisher keine Beweise.

Seine Verteidigung hat deshalb auch umgehend ein aussagepsychologisches Gutachten gefordert. Ein Psychiater soll befinden, dass Ernsts Erzählungen über Markus H. am Tatort "nicht erlebnisbasiert" seien. Kurz: Er soll Ernsts drittes Geständnis als Lüge entlarven.

Am Tag danach, sagt Ernst, vergrub er seine Waffe. Ein Kollege stand Schmiere

Richter Sagebiel fragt nach, wie Markus H. auf den Schuss von Ernst reagiert habe. Der habe den Kopf geschüttelt und gesagt "Alter, Alter..." , sagt Ernst. Aufgeregt sei sein Freund gewesen. "Hat er Ihnen Vorhaltungen gemacht?", fragt Sagebiel. "Nein", sagt Ernst.

Markus H. habe auf der Heimfahrt zu ihm gesagt, er solle langsamer fahren, damit sie nicht auffallen. Und: "Dass wir cool bleiben müssen, und pokern bis zuletzt."

Am nächsten Tag hatte Ernst Spätschicht in seinem Betrieb. Er nahm seine illegalen Waffen sowie die Tatwaffe mit und vergrub sie auf dem Gelände. Ein Kollege stand Schmiere. Dem hatte er gesagt, jetzt, nach dem Tod von Walter Lübcke habe er Sorge, dass es bei ihm zu einer Hausdurchsuchung kommen könnte.

Ernst sagt, der Kollege habe nicht nachgefragt, warum.

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SZ vom 08.08.2020/odg
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