Löhne:Eine Frage der Stärke

Die IG Metall muss nun Jobs sichern und schlägt neue Töne an. Derweil zerfällt die Arbeitnehmerschaft in Deutschland in Beschäftigte mit Mindestlohn und andere mit Privilegien - je nachdem, wie schlagkräftig ihre jeweiligen Gewerkschaften sind.

Von Detlef Esslinger

In Tarifrunden geht es auch nicht komplett anders zu als beim Libyen-Gipfel oder bei Atomverhandlungen. Es werden Erklärungen aufgesetzt, deren Prosa sich dem Laien kaum erschließt, in denen Fachleute indes eindeutige Codes erkennen. In der Metall- und Elektroindustrie zum Beispiel. Der jetzige Tarifvertrag für vier Millionen Arbeitnehmer läuft Ende März aus, zunächst bis Anfang Februar diskutiert die IG Metall, mit welcher Forderung sie antreten wird. Roman Zitzelsberger, ihr einflussreicher Chef in Baden-Württemberg, hat dazu erklärt: Es müssten "die Realeinkommen gesichert und die Kaufkraft der Beschäftigten gestärkt werden". Auch vom Ersten Vorsitzenden Jörg Hofmann gibt es eine Botschaft. Er will ebenfalls die Realeinkommen sichern; auf den Zusatz mit der Kaufkraft verzichtete er sogar.

Diese Sätze sind alles andere als Wischiwaschi. Die Arbeitgeber haben sofort erkannt, was der entscheidende Unterschied zu jenen Erklärungen ist, welche die IG Metall im selben Stadium der zurückliegenden Tarifrunde vor zwei Jahren gab: Damals schockierte die Gewerkschaft sie, indem sie Lohnerhöhungen "um die sechs Prozent" ins Spiel brachte. Exakt sechs Prozent forderte sie sodann. Diesmal fehlt jede Prozentangabe. "Ein vernünftiges Signal", sagt der Arbeitgeberverband Südwestmetall.

Zusammen mit dem Umstand, dass die IG Metall nun mehrmals hintereinander den Arbeitgebern Lohnerhöhungen abrang, mit denen diese ewig haderten, zusammen auch mit dem Umstand, dass derzeit "Rezession" (Arbeitgeber), zumindest aber "Eintrübung" (Gewerkschaft) ist, bedeutet dieser Code: Der IG Metall geht es nicht um den nächsten großen Sprung beim Gehalt. Es geht ihr darum, Jobs zu sichern. Womöglich werden sich beide Seiten zum ersten Mal seit zehn Jahren wenig ineinander verhaken, sondern gemeinsame Interessen suchen. Dass es trotzdem um den 1. Mai herum Warnstreiks geben wird, steht dem nicht entgegen. Die Friedenspflicht endet diesmal kurz vorm Tag der Arbeit, und das schafft die IG Metall nicht: eine Gelegenheit, gemeinsam mit den Mitgliedern etwas Stress zu machen, ungenutzt zu lassen.

Spaltung in zwei Teile ist nach wie vor ein Kennzeichen der Beschäftigungsrepublik Deutschland. In vielen Dienstleistungsbranchen fassen Gewerkschaften kaum Fuß - das ist ein wichtiger Grund, warum Löhne dort so mickrig sind, dass mehr als drei Millionen Menschen das Geld aus nur einem Job nicht reicht und sie einer weiteren Tätigkeit nachgehen. In der Industrie hingegen bleibt Deutschland überwiegend ein Hochlohnland; so sehr, dass Gewerkschaften andere Dinge allmählich wichtiger sind als der notorische Schluck aus der Pulle: nicht nur Jobsicherheit, sondern auch Weiterbildung, mehr Freizeit, Vorsorge für Alter und Pflegebedürftigkeit.

In der Chemie- und Pharmabranche hat die IG Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) vor zwei Monaten eine zusätzliche Pflegeversicherung durchgesetzt. Da sie und die Arbeitgeber für 600 000 Menschen verhandelten, konnten sie bei einem Konsortium aus drei Versicherern Konditionen erwirken, an die man als Einzelkunde nicht einmal zu denken wagte. Tarifpolitik für höchst Fortgeschrittene ist dies. Wohingegen es bei 1,4 Millionen anderen Jobs lediglich 9,35 Euro die Stunde gibt - und das auch nur, weil dies derzeit der gesetzliche Mindestlohn ist.

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