Lockerungen:Schon einer ist einer zu viel

Epidemiologen warnen vor dem Schwellenwert von 50 Neuinfizierten je 100000 Einwohner.

Von Christian Endt

Bund und Länder haben sich darauf geeinigt, die Bekämpfung der Corona-Epidemie stärker in die Hände der lokalen Entscheider zu legen. Epidemiologen halten diesen Ansatz für richtig. Sie weisen auf regionale Unterschiede hin, die auch auf unterschiedliche Strukturen und Altersverteilungen zurückgingen. Tatsächlich gibt es viele Regionen in Deutschland, die bisher von größeren Ausbrüchen des Coronavirus gänzlich verschont blieben, vor allem in den östlichen und nördlichen Bundesländern. Doch auch in den besonders betroffenen Bundesländern im Süden und Westen ist längst nicht jeder Landkreis gleichermaßen betroffen. Mehr als zwanzig Landkreise und kreisfreie Städte meldeten seit mindestens einer Woche keinen einzigen neuen Fall. Zugleich gibt es zahlreiche Gegenden, in denen sich das Virus weiterverbreitet.

50 Infektionen pro Landkreis pro Woche ergibt 41 500 - das wäre eine zweite Welle

So unumstritten das regionale Differenzieren ist, so groß sind auch die Bedenken beim nun festgelegten Schwellenwert von 50 Neuinfizierten je 100 000 Einwohner in den vergangenen sieben Tagen. Leicht lässt sich hochrechnen, was eine solche Größenordnung bezogen auf ganz Deutschland bedeuten würde: knapp 41 500 Neuinfizierte pro Woche. Ein Wert, der selbst zum bisherigen Höhepunkt der Epidemie vor Ostern nie ganz erreicht wurde. Wenn solche Fallzahlen erneut flächendeckend auftreten, ist Deutschland mitten in der zweiten Welle - die man eigentlich verhindern will.

Viele Epidemiologen hätten es am besten gefunden, mit den inzwischen beschlossenen Lockerungen abzuwarten, bis es gar keine Neuinfektionen gibt. "Nur wenn wir Covid-19-frei sind, dann kann man wirklich ohne Sorge und ohne Probleme wieder rausgehen und das gesellschaftliche Leben hochfahren", sagt Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen. Aus Priesemanns Sicht ist die Null-Strategie daher auch für die Wirtschaft am besten, weil sie Planungssicherheit bietet. Wenn man sich aber entscheidet, eine bestimmte Anzahl an Neuinfektionen zuzulassen, müsste dieser Wert je nach Region unterschiedlich ausfallen. "Der Zielwert wird durch die Möglichkeit der lokalen Kontrolle von Infektionsherden vorgegeben", schreiben Priesemann und weitere Epidemiologen. Mitarbeiter der lokalen Gesundheitsämter müssen eine Liste aller Kontaktpersonen von Infizierten anfertigen und diese abtelefonieren. Das Virus lässt sich nur kontrollieren, wenn es gelingt, alle Kontakte schnell zu finden und zu isolieren. Das heißt: Je besser die jeweiligen Behörden personell ausgestattet sind, desto mehr Neuinfektionen sind möglich. Ein bundesweit einheitlicher Schwellenwert müsste demnach konservativ ausfallen. Epidemiologen raten zu einem Neuinfizierten je Tag und Landkreis - umgerechnet entspricht das etwa fünf Fällen pro Woche und 100 000 Einwohner.

Ebenso wichtig wie die Zahl der Neuinfektionen ist die Reproduktionszahl

In aller Regel vergehen einige Tage, bis sich ein Infizierter testen lässt und der Test ausgewertet und gemeldet wurde. Bis die Behörden von einem Überschreiten des Schwellenwerts erfahren, hat sich das Virus längst weiter ausgebreitet. Wenn es gelingt, den Meldeweg zu beschleunigen, lassen sich mehr Infektionen tolerieren.

Generell ist es riskant, die Steuerung der Epidemie an einer einzigen Maßzahl auszurichten. Ebenso wichtig wie die Zahl der Neuinfektionen ist die Reproduktionszahl, die angibt, wie viele Personen ein Infizierter im Mittel ansteckt. Die konkrete Berechnung dieses Werts ist schwierig, aber die Tendenz lässt sich einfach ablesen. Wenn die Zahl der Neuinfektionen über mehrere Tage sinkt, liegt die Reproduktionszahl unter Eins. Steigen die Zahlen dagegen, hat die Kennziffer die Schwelle von Eins überschritten, das Virus geht wieder in eine exponentielle Wachstumsphase. Entscheidend ist also nicht nur die absolute Zahl der Neuinfektionen, sondern ebenso der Trend. Da die allermeisten Kreise aktuell deutlich unter dem Wert von 50 Erkrankungen pro 100 000 Einwohner pro Woche liegen, wäre ein Übersteigen dieser Marke ein doppeltes Alarmsignal: eine hohe absolute Infektionszahl und ein gefährlich steigender Trend.

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