Süddeutsche Zeitung

Lobbyismus in Brüssel:Macht, Milliarden, Meinungsmacher

In Brüssel regieren die Bürokraten. Das denken die Menschen. Aber im Hintergrund regieren noch andere: die mit dem Geld. Die Entstehung von Gesetzen wie der Tabakrichtlinie zeigt, wie Lobbyisten Einfluss nehmen, wie geheime Deals wirken und wie Abgeordnete unter Druck gesetzt werden.

Von Cerstin Gammelin, Brüssel/Straßburg

Kapitel 1: Der Abgeordnete und der Druck

So also sieht jemand aus, der von der Lobby gemobbt wird. Ringe unter den Augen, bartstoppelig, verstrubbelte Haare. Wache Augen. Karl-Heinz Florenz, 66 Jahre alt, Landwirtschaftsmeister vom Niederrhein und CDU-Abgeordneter im EU-Parlament, sitzt in seinem bushaltestellengroßen Büro in Straßburg. Es ist noch früh am Morgen, vor dem Fenster macht es sich ein grauer Tag gemütlich. Zum Rasieren war keine Zeit, das kommt später, am Bürospiegel.

Zuerst will Florenz erzählen, von Lobbyisten und deren ausgeklügeltem Spiel, missliebige Abgeordnete zu isolieren. Das ist jetzt wichtiger als Aussehen. Ein kurzes "Guten Morgen", dann greift er unter den Tisch und holt einen Stoffbeutel hervor. "Schauen Sie, was DIE mir alles geschickt haben".

DIE, das sind Interessenvertreter der Tabakindustrie, von Konzernen, aber auch kleinen Zulieferern. Monatelang schwärmten sie in Europa aus, um die Verhandlungen über das neue Tabak-Gesetz zu beeinflussen. Das Ganze ist ein Paradefall dafür, wie in Europa neue Regeln für die halbe Milliarde EU-Bewohner entstehen. Immer mehr, was den Alltag der Europäer prägt, kommt aus Brüssel statt wie früher aus den nationalen Hauptstädten. Deshalb toben in Brüssel und am Parlamentssitz Straßburg ständig neue Schlachten um Macht und Einfluss, Arbeitsplätze, Paragrafen und Grenzwerte. Und: Die Zahl der Lobbyisten hat sich multipliziert.

Brüssel ist mit 8000 gemeldeten Organisationen nach Washington der weltweit zweitgrößte Lobbyplatz. Die Volkswirtschaften der 28 Länder der Europäischen Union addieren sich zum größten Binnenmarkt der Welt. Bewacht wird dieser von der Europäischen Kommission. Die Behörde ist die einzige Institution, die Gesetze vorschlagen darf. Diese gehen dann an das EU-Parlament und an die zuständigen Fachminister in den 28 Hauptstädten - und an die Lobbyisten.

"Wenn es einen Preis gäbe für exzellente Lobbyarbeit, dann hätte den Philip Morris verdient", sagt Florenz über den US-Konzern. "Das war ein richtiger Apparat, mehr als 150 Leute, nicht nur in Brüssel, auch in Düsseldorf oder Berlin. Die haben sich vorab zusammengesetzt und die Verhandlungen durchgespielt." Etappe für Etappe. Anhörung zum Gesetzesvorschlag im Februar 2013. Dann Beratungen im Umweltausschuss im April. Abstimmung im Parlament, Verhandlungen in kleinen Gruppen, Einigung mit den Mitgliedsstaaten, Ende Februar, erneute Abstimmung im Parlament. "Immer hatten sie Antworten parat. Sie waren vorbereitet auf jede Entscheidung, auch jede negative", sagt Florenz.

Kritiker werden rot markiert

Die generalstabsmäßig geplante Lobbyarbeit sollte Regeln verhindern, die Rauchen unattraktiver machen. Für die Hersteller ist die Richtlinie eine Gefahr für ihre Umsätze. Verbraucher- und Gesundheitsschützer wollten richtig durchgreifen und suchtfördernde Stoffe regulieren. Florenz wollte 60 Chemikalien analysieren, die womöglich reagieren, wenn die Zigarette brennt. "Es ist völlig unklar, was da passiert", sagt er. Unbedenkliche Chemikalien wollte er auf einer Positivliste auflisten. Doch mit diesem Plan scheitert er bald. Stattdessen schafft er es auf eine andere Liste: Philip Morris hat in einem 160-seitigen Dossier Abgeordnete rot gekennzeichnet, die sich besonders kritisch zeigen. Florenz steht ganz oben.

Dabei ist der Landwirt kein Hardliner. Er liebt sogar Zigarren. Aber er stört die Branche, weil er ein stichhaltiges Argument vorbringt: "Jeden Tag sterben 300 Raucher. Um weiter genauso viele Zigaretten zu verkaufen, muss die Tabakindustrie also täglich 300 Nichtraucher vom Rauchen überzeugen".

Aber die Lobby gibt nicht auf. Über die Monate, in denen verhandelt wird, bekommt Florenz diverse Geschenke, die er jetzt aus seinem Stoffbeutel holt. Einen Weihnachtskalender mit 24 Türchen, bedruckt mit einem dickbäuchigen Weihnachtsmann und dem an Zigarettenpäckchen erinnernden Schriftzug: Zu viel Schokolade macht dick. Eine Flasche Rotwein mit großflächig geklebtem Krebsgewebe: "Drinking can cause cancer". Eine Geburtstagskarte mit einem unappetitlichen nackten Altmännerbauch: Zu viel Kuchen macht dick. Und dem Spruch: "Und allen wünschen wir eine Zukunft, in der wir ohne Bevormundung selbst bestimmen können, was wir genießen und was nicht".

Dann kommt Druck aus den eigenen Parteireihen. Es kreuzen auf: der Chef der deutschen CDU-Abgeordneten im EU-Parlament. Der Fraktionschef der Europäischen Volkspartei. Karl-Heinz, sagen sie, überleg' doch noch mal.

In Brüssel haben Unternehmen, Verbände und NGOs eine gewaltige Branche geschaffen, deren Mitarbeiter Gesetze so beeinflussen sollen, dass der Wirtschaft keine Nachteile entstehen. Besonders effektiv sind Tabakkonzerne, Glücksspielanbieter, Telekomfirmen, Banken, Versicherungen, Energiekonzerne, Pharma- und Chemiefirmen, Lebensmittelhersteller und Autobauer und Rüstungskonzerne. Alles Branchen, in denen es schon bei kleinen Gesetzesänderungen um viel Geld geht.

Die EU-Kommission hat die Aufgabe, im Binnenmarkt für faire und klare Spielregeln zu sorgen. Das ist gar nicht so einfach. Die 28 Mitgliedsländer sind erbitterte Konkurrenten, die um Kunden und Marktanteile ihrer Firmen ringen. Und immer wieder sorgen die Interessen der Unternehmen dafür, dass die Bürger Europas unter neuen Regeln leiden müssen.

Ein besonders krasses Beispiel sind die unübersichtlich langen Kontonummern und Bankleitzahlen, auf die sich Europas Bürger einstellen müssen. Bei Mister Iban und Madame Bic, wie sie in Brüssel spöttisch genannt werden, ist die Vaterschaft eindeutig: Es waren nicht etwa gelangweilte Bürokraten der Kommission, die sich das ausdachten. Eine Organisation der Banken entwickelte die neuen Standards für einen einheitlichen Zahlungsverkehr im Euro-Raum, einschließlich Mister Iban mit 22 Ziffern und Madame Bic mit elf. Aus diesen Vorgaben schrieben EU-Beamte eine Richtlinie, die von August an gelten soll. Vielstellige Monsternummern, erdacht von den Banken, umgesetzt von der Bürokratie.

Die umstrittene Tabakrichtlinie geht auf die Vision der Kommission für ein rauchfreies Europa von 2007 zurück. Doch die Neufassung der Regeln wurde schwieriger als gedacht. Bevor sich die Tabakbranche ab Sommer 2013 auf Parlamentarier wie den Bauer Florenz konzentriert, ist sie in der Kommission aktiv, in der das Gesetz geschrieben wird.

Regelmäßige Treffen mit Tabaklobbyisten

Im Oktober 2012 stürzt der zuständige Gesundheitskommissar John Dalli über angebliche Lobbyisten-Kontakte. Der Verdacht: Ein Freund von Dalli erpresse mit dessen Kenntnis einen schwedischen Tabakhersteller. Kommissionschef José Manuel Durão Barroso wirft Dalli nach kurzer Unterredung raus. Offiziell erklärt die Behörde, der Mann aus Malta sei aus freien Stücken aus dem Amt geschieden. Dalli bestreitet das. Er habe lediglich um Bedenkzeit gebeten. Er fühlt sich lächerlich gemacht. Die Vorgänge sind bis heute ungeklärt.

Dalli streitet ab, von einem Erpressungsversuch gewusst zu haben. Sein Freund Silvio Zammit hat angeblich von dem Tabakkonzern Swedish Match 60 Millionen Euro gefordert, um mithilfe Dallis das geplante Verbot des Schnupftabaks Snus zu stoppen. Swedish Match wandte sich empört an die Chefetage der Kommission. Dalli wird auch vorgeworfen, Treffen mit der Tabaklobby nicht gemeldet zu haben, wozu er rechtlich nicht verpflichtet war. Der Vorwurf wirkt seltsam. Auch andere EU-Beamte und Kommissare treffen sich regelmäßig mit Tabaklobbyisten, ohne dass daran jemand Anstoß nimmt. Im engsten Umkreis von Kommissionschef Barroso soll es freundschaftliche Kontakte zur Tabakindustrie geben. Michel Petite, Anwalt mit wichtigen Tabakkunden, war Mitglied des Ethik-Rates der Kommission.

Bemerkenswert ist, dass der geschasste Kommissar Dalli, der früher Kette rauchte, die Regeln drastisch verschärfen wollte. Er fand, jährlich 700 000 Todesopfer durch Rauchen seien zu viel. Er wollte den Verkauf zahlreicher Nikotinprodukte und auch die Werbung dafür beschränken.

Schon bevor er 2012 gehen muss, wird seine Arbeit gebremst. Engste Mitarbeiter von Barroso schreiben am 25. Juli 2012 einen zwei Seiten langen Brief an die Generaldirektorin der Gesundheitsbehörde. Es gebe "ernsthafte Bedenken" gegen die geplante Richtlinie. Sie kritisieren die fehlende "Analyse der Möglichkeit, auch weniger harte Maßnahmen zu ergreifen". Sie kritisieren den "allgemeinen Bann von rauchlosen Tabakprodukten". Ganz am Ende weisen sie auf die "politische Sensibilität" der gesamten Tabakgesetzgebung hin. Dallis Richtlinienentwurf könne noch nicht in der Kommission beraten werden.

Dann muss Dalli gehen. Malta schickt einen Nachfolger, Tonio Borg. Die Arbeit an der Richtlinie verzögert sich um ein Jahr. Die Lobby nutzt diese Zeit. Interessenvertreter aller betroffenen Branchen reden Kommission und Parlamentariern, aber auch nationalen Politikern ins Gewissen. Am Rande der Fachmesse Intertabac appellieren Branchenvertreter, die Belange von bis zu 100 000 Beschäftigten in der deutschen Tabakwirtschaft zu berücksichtigen. Zugleich warnt die Branche vor einem Umsatzrückgang - was natürlich weniger Steuereinnahmen bedeuten würde.

Im ersten Halbjahr 2013 sank der offizielle Absatz von Zigaretten in Deutschland um fünf Prozent auf knapp 37 Milliarden Stück. Der Anteil nicht in Deutschland versteuerter, aber hier konsumierter Zigaretten wird auf 20 Prozent geschätzt - er steigt. Die Lobbyisten warnen vor angeblichen Folgen des Gesetzes: Weniger Verkäufe und weniger Erfolge gegen Kippen-Schmuggel bedeuten weniger Einnahmen für den Staat.

Vertrauliche Verträge, geheime Absprachen

Dieser Hinweis führt zu den Verflechtungen zwischen Tabakindustrie und europäischen Institutionen. Es bestehen Verträge zwischen der EU-Kommission, den Mitgliedsstaaten und diversen Tabakkonzernen, darunter Philip Morris und British American Tobacco, die beide Seiten "mit einem Komplex beiderseitiger Verpflichtungen verknüpfen". So sagt es der oberste Betrugsermittler der EU, Giovanni Kessler.

Die Verträge tragen den Stempel "vertraulich". Sie geben Einblick in geheime Absprachen und zeigen, wie wenig die Parlamente in Europa, aber auch die nationalen Hauptstädte kontrollieren können, was da vor sich geht.

Die Tabakindustrie zahlt nach den Vereinbarungen Milliarden Euro an die Europäische Kommission und die nationalen Hauptstädte, damit diese den Schmuggel von Zigaretten besser bekämpfen können. Im Gegenzug verzichtet die öffentliche Hand darauf, gegen die Tabakfirmen vorzugehen, sollten sie der Steuerhinterziehung überführt werden. Es ist ein Deal, der in der Rechtsprechung der USA und anderer Staaten üblich ist. Aber es ist auch ein Deal, der gegen das gängige Rechtsverständnis in Europa verstößt und in Deutschland einen Ruch von Bestechung hat. Die EU-Staaten profitieren von regelmäßigen Einnahmen, die Tabakfirmen sind vor staatlichen Ermittlungen wegen möglicher Steuerdelikte geschützt.

Das sei "kritisch betrachtet eine Art Fersengeld, ein Freikauf", klagt der FPD-Europaabgeordnete Michael Theurer, Vorsitzender des Haushaltskontrollausschusses. Theurer verlangt für das Parlament bislang vergeblich Zugang oder wenigstens umfassende Information über regelmäßige Kontakte zwischen Kommission und Tabakindustrie. Der Interessenkonflikt ist unübersehbar: Wie kann die EU-Kommission, die Geld von den Konzernen bekommt, diese unabhängig kontrollieren? Und womöglich ihr Geschäft beeinträchtigen?

Die Juristen der Tabakindustrie beschwichtigen, dass die Milliarden offiziell der Bekämpfung von Schmuggel, Plagiaten, entgangenen Steuereinnahmen und damit der EU-Betrugsbekämpfungsbehörde gewidmet sind. Ausdrücklich heben sie hervor, dass die Konzerne nicht ohne Weiteres die Zahlungen einstellen können, wenn sie meinen, Europa verabschiede zu strenge Regeln. Zahlten die Unternehmen einfach weniger, dürfe dies aber nicht als Reaktion auf schärfere Regeln gewertet werden.

Alles kein Problem also? Mitnichten. Einige Parlamentarier halten die Verträge für bedenklich. Weil die Tabakunternehmen und die Kommission sämtliche Korrespondenz vertraulich hielten, könne niemand die Gründe nachvollziehen, falls die Unternehmen womöglich ihre Zahlungen vorzeitig beendeten, kritisiert der Liberale Theurer. Damit entstehe der begründete Verdacht, dass die Konzerne sich das Wohlwollen der Kommission und der Mitgliedsstaaten praktisch erkauften. "Es ist möglich, dass das Ziel der EU und der Mitgliedsstaaten, weiterhin jährlich Zahlungen zu erhalten, die politischen Beschlüsse beeinflusst, die während der Laufzeit der Abkommen gefasst werden." Bei einem der Abkommen sei die höchste Zahlung erst im Jahr 2029 vorgesehen, weswegen es für die EU-Kommission wichtig sei, das Abkommen nicht vorzeitig zu riskieren.

Neue Regeln, aber weniger streng

Die CDU-Abgeordnete Ingeborg Gräßle geht davon aus, dass es eine Art Gentlemen's Agreement gibt. Auch sie ist kritisch: Wer die Treffen der EU-Institutionen mit der Tabakindustrie bezahle, will sie wissen. Und die Grünen fragen, ob die Konzerne die Verträge mit Brüssel kündigen dürfen, wenn ihnen eine Richtlinie nicht gefällt. Antworten gibt es nicht. Vielleicht ist das eine Art Antwort: Am letzten Mittwoch im Februar hat das Parlament die neuen Standards zur Verringerung der Attraktivität des Rauchens verabschiedet. Sie sind weniger streng als geplant.

Von 2017 an werden Zigarettenschachteln, Feinschnitt- und Wasserpfeifentabak-Packungen auf 65 Prozent der Vorder- und Rückseite mit Schockbildern bedruckt, bisher waren es 40 Prozent. Aromatisierte Zigaretten sollen ab 2020 verboten werden. Verboten sind auch irreführende oder verharmlosende Verpackungen. Und E-Zigaretten sollen weiter frei verkauft werden.

Karl-Heinz Florenz hat eine unerquickliche Gesetzgebung hinter sich. Er ärgert sich zum Beispiel darüber, dass Menthol noch eine Weile zugemischt werden darf. "Menthol dringt tief in die Lunge und nimmt den Rauch und alle verbrannten Stoffe mit, und die lagern sich dann dort ab". Florenz räumt seine Weihnachtskalender von der Tabakindustrie in die Stofftasche. Jetzt kandidiert er wieder fürs Parlament, er will sich eine weitere Legislaturperiode, vermutlich die letzte, im Europäischen Parlament antun.

Ob es klappt? In Düsseldorf hat die CDU gerade ihre Kandidaten aufgestellt. Florenz ist sein öffentlicher Kampf gegen die Tabakkonzerne offensichtlich nicht gut bekommen. Er ist auf Platz acht der Liste gerutscht. Vor der Tabakrichtlinie war er die Nummer zwei.

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