Live-Ticker:Wo ist Machtwechsel? Wir gucken Kanzlerin

Es war eine Hängepartie, doch nun haben wir eine neue Regierungschefin. Deutschland, deine Kanzlerin - ein Ausfluss reinster Herzen.

III. Akt - Die Vereidigung im Bundestag:

13:57 Uhr: Der Kanzler emeritus richtet sich nochmal kurz den Hosenbund, während die Nachfolgerin vorbeitänzelt, mit ihrem Lächeln, das sie heute gar nicht mehr aus dem Gesicht bekommt.

Und doch: Ein merkwürdiges Zwischenreich, das unsere Verfassung, das die Geschichte der neuen Kanzlerin da eingerichtet hat. Was ist sie denn nun? Denn: gewählt ist sie, ihre Urkunde hat sie bereits erhalten. Alles Akte, die unbedingt vollzogen sein wollen, die Wahl hat sie auch schon angenommen: Aber sie ist noch nicht vereidigt. Ist sie denn jetzt schon Kanzlerin. Werden wir im Augneblick noch regiert?

14:05 Uhr: "So wahr mir Gott helfe!" Die Kanzlerin, jetzt ist sie es tatsächlich!, hat sich auf Gottes Beistand besonnen, Schröder hat das damals nicht getan. Damit schließt sich wieder ein Kreis - abgesehen davon, dass Frau Merkel natürlich auch die Tochter eines Pfarrers ist.

Die "Zeremonie" ist demokratisch profan gehalten und geht äußerst schnell über die Bühne - anders als ein Papstbegräbnis. Kaum noch Gratulationen der Ihren, irgendeiner Pflicht geschuldeter Beifall. Frau Kanzlerin Merkel geht sogar zu Stoiber, der, man könnte es so deuten, in ein Gespräch mit Gregor Gysi verstrickt scheint. Sie bietet ihm die Hand an, er schlägt ein.

Aber Frau Merkel, mit äußerst ansprechenden, man möchte sagen frisch gewaltzten Haaren, bringt alles wieder ins Lot.

14.10 Uhr: Und hinter allem wabert indifferent und einschläfernd der chill-out-Sound Karl Feldmeyers.

14.15 Uhr:Prof Jäger spricht vom Abbruch des rot-grünen Projekts, Frau Merkel macht auch ein Päuschen und wandelt mit einigen Getreuen und einem Geschenk in der Hand eine Treppe hinauf, dorthin, wo die TV-Kameras nicht hinreichen.

Unterdessen Pendeldemokratie: Nun müssen die Minister beim Bundespräsidenten antreten, um sich ihre Mappe abzuholen, erst dann können sie vereidigt werden, dann wieder im Bundestag.

14.18 Uhr: Jetzt ist die Zeit für öffentlich-rechtlichen Humor: 9 1/2 Wochen heißt ein Beitrag über die Zeit seit dem 18. September.

14.21 Uhr: Mit der Wahl Merkels sind jetzt alle fünf Spitzenämter, die dieser unser Staat zu vergeben hat, in schwarzer Hand. Bundespräsident Horst Köhler. Bundestagspräsident Norbert Lammert. Bundeskanzlerin Angela Merkel. Bundesratspräsident Peter Harry Carstensen. Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier. Das gab es zuletzt 1992 in der Kombination von Weizsäcker, Süssmuth, Kohl, Seite, Herzog. Und doch: Ganz so schwarz ist die Republik auch wieder nicht, wenn man sich den bunten Bundestag anschaut.

14:30 Uhr: Wir schwanken hier ein wenig: Einerseits ist dies zweifellos ein historischer Augenblick in der Geschichte unseres Landes. Soviel Bundeskanzler, ohne Merkel waren es sieben, gab es bislang für Nachkriegsdeutschland noch nicht zu vermelden. Außerdem, auch das ist historienträchtig, bedeutet dieser Kanzlerwechsel auch einen Regierungs- und Machtwechsel. Mit anderen Worten: Der Mantel der Geschichte weht mal wieder, wir dürfen seinen Saum fassen. Und doch! Man verspürt kaum Aufbruch. Diesem Neubeginne wohnt wenig Zauber inne. Viel Pragmatismus, viel erhoffter Pragmatismus, das ja - angesichts der vielen Probleme, die dieses Land zu bewältigen hat. Insofern erwartet man eher aufgekrempelte Ärmel als einen Politikwechsel. In die Hände spucken statt Reden schwingen! Auch das ist durchaus historisch zu nennen. Ob eine große Koalition, ob Kanzlerin Merkel dies zu leisten vermag - auch das wird die Geschichte erweisen.

Wo ist Machtwechsel? Wir gucken Kanzlerin

I. Akt: Kanzlerwahl im Bundestag

10.00 Uhr: Der Bundestag ist gut besucht. Lockeres Get-together im Plenarsaal. Die Bundesratsbank ist voll besetzt. Nur die Regierungsbank ist leer. Noch. Aber das gibt sich heute.

Jetzt eröffnet Bundestagspräsident Norbert Lammert die Sitzung - mit einer Ansprache zum Gedenken der gerade verstorbenen SPD-Abgeordneten Dagmar Schmidt. Die Abgeordneten lauschen stehend.

Auch Rechtsanwalt Gerhard Schröder steht ein letztes Mal in der ersten Reihe der SPD-Fraktion. Es ist heute seine letzte Sitzung als Abgeordneter. Angela Merkel will er aber noch wählen. Wer die Wahl hat, hat die Qual?, fragen wir uns.

10.05 Uhr: Lammert wird formal. Er begrüßt die neuen Abgeordneten. Unter anderem auch Johannes Singhammer, der Edmund Stoiber beerbt. Der CSU-Chef hat nun doch vorzeitig auf sein Mandat verzichtet. Er wird Angela Merkel also nicht wählen. Ob er sein Ausscheiden absichtlich so getimt hat?

Dann bemüht Lammert das Grundgesetz und schlägt vor, "die Abgeordnete Angela Merkel zur Bundeskanzlerin zu wählen." Der Sport-Kollege sagt: "Das ist ja wie bei der Wahl zum Klassensprecher."

10.12 Uhr: Alle 614 Abgeordneten werden jetzt einzeln aufgerufen - das dauert. Die Kollegen vom Fernsehen müssen die Zeit überbrücken - und krallen sich die ersten Abgeordneten, die schon abgestimmt haben. Frage an Niels Annen von der SPD: "Herr Annen, Sie haben also gerade abgestimmt?" Antwort Annen: "Ja, ich habe gerade abgestimmt." Unglaublich, aber wahr. Es folgt blablabla. Rot-Grün, das große Projekt. Niels - nicht Nils, Phönix! - Annen war mal Juso-Vorsitzender, muss man dazu wissen.

Edmund Stoiber ist doch da - als Ministerpräsident. Das neue Kabinett muss bis zur Inthronisierung noch auf der Zuschauertribüne Platz nehmen.

Vor der Live-Übertragung interviewte Phönix den neuen "Oppositionsführer" Guido Westerwelle. Der hat sich schon voll auf seine neuen Gegner eingeschossen: Die größte Steuererhöhung in der Geschichte der Bundesrepublik, beklagt er. Was bleibt ihm auch übrig. Andererseits: Was bleibt den Koalitionären übrig? Mit Steuersenkungen à la FDP würde der Schuldenberg nicht kleiner.

10.20 Uhr: Die Kamera zeigt Angela Merkel. Die Noch-Kanzlerkandidatin tigert durch den Plenarsaal. "Ihr Lächeln wirkt wie eingefroren, ihre Körpersprache zeigt die Anspannung. Aber die Frisur sitzt", bemerkt unser Chef.

10.24 Uhr: Angela Merkel hat ihren Stimmzettel in die Urne geworfen. Der Vorhang der Wahlkabine war nicht ganz zu - wir konnten dennoch nicht erkennen, ob sie auch für sich gestimmt hat. Es handelt sich um eine Wahl mit "verdeckten Stimmzetteln", das heißt geheim! Keine namentliche Abtsimmung. Im Bundestag gibt es geheime Wahlen nur bei Personalentscheidungen. Das Grundgesetz schreibt übrigens keine geheime Wahl vor, dieses Prozedere hat der Bundestag selbst beschlossen.

Angela Merkel unterhält sich nach ihrer Stimmabgabe mit einer unbekannten Frau. "Sieht aus wie Rita Süssmuth junior", bemerkt der Politikchef.

10.27 Uhr: Nun ist Gerhard Schröder an der Reihe. Er geht zu seiner Wahlkabine. "Fernsehfuchs Schröder wählt hinter einer Säule", sagt unser Chef. Kurz und schmerzlos, ohne große Geste, wirft er seinen Zettel in die Urne. Renate Künast wirft kurz zuvor ein. "Bei S!", ruft der Politikchef. Hat sie sich genau überlegt, ob sie mit "Ja" stimmen will?

10.31 Uhr: Endlich ein anständiger Interviewpartner bei Phönix - Wolfgang Bosbach, Fraktionsvize der Union. Er erzählt von der schweren Geburt der Koalition und der tapferen Frau Merkel: "Weniger große Oper, dafür mehr Sachlichkeit", propagiert er.

Renate Künast lässt sich inzwischen feiern, dass sie es geschafft hat, ihre Stimme abzugeben. Ist doch eigentlich nicht so schwer. "Nur draufstehen darf nix", weiß der Politikchef. Bei Willy Brandts Wahl 1969 schrieb ein Abgeordneter auf den Zettel: "Frahm nein!" Er spielte auf die uneheliche Herkunft von Brandt an - und machte seinen Stimmzettel so ungültig.

10.35 Uhr: Politologe Thomas Jäger merkt nicht, dass er zu reden aufhören sollte. "Wenn Wissenschaftler mal ins Fernsehen dürfen", sagt der Sportkollege. Die Wahl ist nämlich zu Ende. Brigitte Zypries war die letzte, die abgestimmt hat.

Jäger wurde verräumt, dafür darf nun Sigmar Gabriel sprechen. Ob er ein Gespür dafür habe, wie geschlossen die Abstimmung verlaufen werde. "Sehr geschlossen", sagt er mit sonorem Timbre in der Stimme. Links eingeblendet auf dem Bildschirm - die Linkspartei. Oskar will Zeitung lesen, darf aber nicht. Er wird von einem unbekannten Abgeordneten aufgeschreckt. Daneben sitzt Gregor Gysi eher gelangweilt.

10.41 Uhr: Die Messlatte für Angela Merkel liegt bei 76 Prozent. So viel erhielt der erste Großkoalitionskanzler Kurt-Georg Kiesinger. 1966 war das. Schröder wird sie wohl nicht übertreffen. Der schaffte beim ersten Anlauf sogar mehr als 100 Prozent. Er erhielt sechs Stimmen mehr, als seine rot-grüne Koalition Abgeordnete hatte.

10.44 Uhr: Karl Feldmeyer, immerhin Ex-"FAZ"-Mann, spricht von Oskar Lafontaine. "Er ist der große Verführer." Wen will er denn eigentlich verführen?

10.47 Uhr: Experte Karl Feldmeyer glänzt mit Schlagworten: "Entbürokratisierung, Liberalisierung, Rahmenbedingungen ändern." Aha. Geschenkt. Wir warten auf das Ergebnis.

"Angie smst schon wieder", schimpft der Politikchef. Ob ihr jemand das Ergebnis geschrieben hat? Wir bekamen nämlich gerade eine Eilmeldung von Reuters: Merkel mit 397 Stimmen zur Kanzlerin gewählt! Die Mienen hellen sich auf. Merkel und ihre Getreuen lachen erfreut. Das wären 88,6 Prozent der großen Koalition.

10.51 Uhr: "Wie können die von Reuters nur so schnell sein?", fragt der Sportexperte. Wie kommen sie an das Ergebnis? Vor allem, wie kommt das so schnell auf unseren Schirm? Wir sind erstaunt.

10.54 Uhr: Jetzt wieder der Bundestagspräsident. Er klingelt. Die Abgeordneten nehmen Platz. Das Ergebnis wird bekannt gegeben: "Abgegebene Stimmen: 612. Gültige Stimmen: 611." Dann eine Pause. "Mit Ja haben gestimmt: 397." Tatsächlich. Die Reuters-Meldung stimmt. 88 Prozent der großen Koalition. 64 Prozent des gesamten Bundestages. Applaus im Hohen Haus. Warmer Applaus, aber keine Begeisterungsstürme. Aber die Abgeordneten stehen immerhin auf.

"Mit Nein haben gestimmt: 202", fährt Lammert fort. Die Linkspartei klatscht erst jetzt. Lammert kontert: "Bis zu diesem Augeblick war die Abstimmung geheim." Dann zählt er die sieben Kanzler der Republik auf: Nach Adenauer, Erhard, Kiesinger, Brandt, Schmidt, Kohl und Schröder ist nun "die Abgeordnete Dr. Angela Merkel" zur Bundeskanzlerin gewählt.

Merkel lächelt. Blumen. Gratulanten. Auch Gerhard Schröder ist bei den Ersten, die Merkel die Hand geben. Lammert unterbricht die Gratulationstour mit der Formfrage: "Frau Dr. Merkel, ich habe den begründeten Eindruck, dass Sie die Wahl annehmen. Ich darf Sie fragen, ob Sie die Wahl annehmen?" Merkel stellt sich hinter ihr Tischmikro und antwortet: "Herr Präsident, ich nehme die Wahl an". Dann darf weiter gratuliert werden. "Stoiber tritt seinen wohl schwersten Gang an", sagt der Mann aus der Kultur. Auch Gregor Gysi beglückwünscht Merkel und hebt zu einem kleinen Vortrag an. "Gerhard has left the building", ergänzt die Kultur.

Teil Eins der Kanzlershow ist damit vorbei. Nächster Programmpunkt: Ernennungsurkunde beim Bundespräsident abholen. Um 12 Uhr. Dann melden wir uns wieder, denn: Wir bleiben dran.

II. Akt: Ernennung durch den Bundespräsidenten

11.51 Uhr: In knapp zehn Minuten geht es los. Der Bundespräsident bittet Angela Merkel ins Schloss Charlottenburg. Das Schloss Bellevue wird nämlich noch immer renoviert.

11.58 Uhr: Jürgen Rüttgers mosert. Die 51 fehlenden Stimmen für Merkel aus der großen Koalition sind im zu viel. Schuld ist natürlich die SPD. Andererseits sagt er, dass noch nie ein Kanzler alle Stimmen seiner Koalition bekommen hat. Da irrt er. Siehe Schröder-Wahl 1998: 351 Stimmen, obwohl Rot-Grün nur 345 Abgeordnete hatte.

12.00 Uhr: Ganz pünktlich geht's los. Das Mikro ist erst nicht an, als Bundespräsident Köhler spricht. Dann liest er die Urkunde vor. Kernsatz: "Aufgrund Artikel 63, Absatz 2 des Grundgesetzes ernenne ich sie zur Bundeskanzlerin." Und wünscht ihr: "Glück, viel Kraft und Gottes Segen." Merkel erwiedert artig: "Vielen Dank, Herr Bundespräsident". Dann gehen sie in Positur, Merkel und der mehr als einen Kopf größere Horst Köhler. Da stehen sie nun. Lange. Starr harren dem Blitzlichtgewitter. Dann gehen sie ab.

Eineinhalb Minuten dauert das Prozedere nur. "Kurz und schmerzlos", meint der Wirtschafts-Kollege. "Wir danken Köhler für die Kürze", fügt er noch hinzu. "Wie das war's schon?", fragt der Kultur-Chef. Ja das war's. Noch viel kürzer als die Unterzeichnung des Koalitionsvertrages. Keine Merkel-Rede, nichts. Andererseits: Was sollen die beiden groß sagen? Das Protokoll will es halt so.

Als Merkel das Schloss Charlottenburg verlässt, steht ihr die Freude ins Gesicht geschrieben. So gelöst hat man sie lange nicht gesehen.

Jetzt ist Angela Merkel also gewählt und ernannt. Ist sie jetzt schon Kanzlerin oder nicht? Nein, sagt Phönix. Dazu fehle noch die Vereidigung. Das Grundgesetz sagt in Artikel 63 (2) nur, dass der Gewählte vom Bundespräsidenten zu ernennen ist. Frau Merkel sieht das offenbar auch so. Schon um 12.15 Uhr gibt es von www.bundeskanzler.de einen Redirect zur Seite http://bundeskanzlerin.bundesregierung.de. Links oben prangt das Signet "Die Bundeskanzlerin". Ergo: Die Ernennung reicht. Wir schauen uns trotzdem die Vereidigung um 14 Uhr an.

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