Süddeutsche Zeitung

Literaturwissenschaftler Gumbrecht über den Ruf der USA:"Die Europäer hätten Obama lieber ganz für sich"

Amerikaner? Waffennarren, die den Klimawandel leugnen und deren Präsident mit Drohnen in den Krieg zieht. So denken - überspitzt - viele Deutsche, wenn sie an die USA denken. Der in Kalifornien lebende Intellektuelle Hans-Ulrich Gumbrecht findet das überheblich. Drohnen seien ein technologischer Segen und Obama äußerst erfolgreich. Allein die Erwartungshaltung sei falsch.

Matthias Kolb, Stanford

Hans Ulrich Gumbrecht, 64, ist gebürtiger Würzburger mit deutsch-amerikanischer Staatsbürgerschaft. Seit 23 Jahren lehrt er Literaturwissenschaft an der Universität Stanford in Kalifornien. Deutschland hat er trotzdem fest im Blick.

Süddeutsche.de: Herr Gumbrecht, Sie lehren seit 23 Jahren in Stanford, sind amerikanischer Staatsbürger und verfolgen immer noch sehr genau, was in Deutschland über die USA berichtet wird. Ärgert Sie die Lektüre manchmal?

Hans Ulrich Gumbrecht: Hier fallen zwei Komponenten auf. Das eine ist diese eigenartige Häme der Deutschen, die an Böswilligkeit grenzt: Es darf doch nicht sein, dass es den USA gut geht, deren Abstieg muss bald beginnen. Seit 1989 habe ich in Amerika selbst nur einmal erlebt, dass die Frage, ob die USA noch Weltmacht Nummer Eins sind, diskutiert wurde - und das war bei einer Kriegsveteranen-Veranstaltung. Das zweite ist die Tatsache, dass viele Deutsche die fundamentalen Unterschiede in den Alltagsstrukturen zwischen ihrem Land und Amerika unterschätzen oder nicht wahrnehmen wollen.

SZ.de: Wo ist die Differenz besonders groß?

Gumbrecht: Ein gutes Beispiel ist Obamas Gesundheitsreform, die mir sehr am Herzen liegt. In Interviews habe ich manchmal von Begegnungen mit Amerikanern berichtet, die das Risiko, an einer Blinddarmentzündung zu sterben der Gefahr vorziehen, vom Staat bevormundet zu werden. Die deutsche Reaktion ist immer gleich: das ist doch nicht im Interesse der Leute. Darauf entgegne ich: Was deren Interesse ist, müssen Sie denen selbst überlassen.

SZ.de: Halten Sie diese Meinung denn für vernünftig?

Gumbrecht: Natürlich nicht. Aber man darf doch nicht leugnen, dass es Leute mit 30.000 Dollar Jahreseinkommen gibt, die lieber nicht versichert sind, anstatt vom Staat abhängig zu sein. Doch diese Unterschiede, die gar nicht immer positiv für die USA sind, werden in Deutschland stets ignoriert. Die Sympathie für Amerika in der deutschen Gesellschaft, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt hat, ist heute einer systematischen Blindheit gewichen.

SZ.de: Sie sagen: Die Deutschen wollen die Amerikaner und ihren Staat gar nicht verstehen.

Gumbrecht: Ich denke schon. Nur sehr langsam zum Beispiel entsteht in Deutschland ein Verständnis dafür, dass die USA mehr mit der Europäischen Union zu tun hat, was zum Beispiel die Strukturen des Föderalismus angeht. Ich wohne zuerst in Santa Clara County, dann in Kalifornien und irgendwann, wenn ich auf meinen Pass schaue, auch in den Vereinigten Staaten von Amerika. Mir war die Politik in Washington wichtiger, als ich noch in Europa gewohnt habe. Wenn morgen Präsidentschaftswahl wäre, dann gebe es kaum Plakate in Palo Alto. Wenn aber der Elternbeirat für die staatlichen High Schools gewählt wird, dann ist alles vollgeklebt. Ich sehe eine starke Ähnlichkeit zur Schweiz mit ihren Kantonen.

SZ.de: Inwiefern?

Gumbrecht: Dies sind beides Länder, die mikrostrukturell radikal demokratisch sind. Hier wird ja der Sheriff direkt gewählt und der muss sich den Bürgern präsentieren. Doch je abstrakter die Ebene wird, umso mehr nimmt das Interesse ab. Die Wahlbeteiligung bei Präsidentschaftswahlen liegt selten höher als 50 Prozent.

SZ.de: Kommen wir noch mal zum Verhältnis der Deutschen zu Amerika, das Sie mit "Missgunst" beschreiben. Nehmen Sie diese eher bei den Funktionseliten wahr - oder in der Bevölkerung?

Gumbrecht: Das ist durchgängig der Fall. Ich glaube, dass höchstens Hartz-IV-Empfänger noch eine Grundsympathie haben, die würden vielleicht gern in Florida in Rente gehen. Bei den Funktionseliten artikuliert sich die Häme in einer vorgespielten Besorgnis: Vor ein paar Jahren fürchtete man um Amerikas Demokratie, was vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte grotesk ist, und nun ist es eben die US-Wirtschaft. Aber seit das Rating für Deutschland auch nicht mehr ganz so solide ist, sind die Rufe etwas weniger laut. Ich habe selbst dauernd sorgenvolle Fragen gehört, ob meine Kinder hier nicht ideologisiert würden oder in die Kirche gehen müssten.

SZ.de: Allerdings sind die USA hoch verschuldet, der Kongress blockiert sich selbst, und während der größten Dürre redet niemand über Klimawandel. Warum bleiben Sie optimistisch?

Gumbrecht: Natürlich ist mir bewusst, dass ich in einer privilegierten Position bin. Ich unterrichte an einer der besten Universitäten der Welt in einer Region, also im Silicon Valley, die für die Entwicklung des Landes entscheidend ist. Aber allein die Tatsache, dass es Stanford und die einzigartige Symbiose zu Silicon Valley gibt, spricht für Amerika. Es gibt weltweit nichts Vergleichbares: Die klügsten und ehrgeizigsten Leute kommen von überall her nach Nordkalifornien und dadurch wird schlicht enorm viel intellektuelle Energie freigesetzt.

SZ.de: So etwas wäre in der Europäischen Union nicht möglich?

Gumbrecht: Die Bedingungen in der EU sind ja nicht schlecht, aber sie ermöglichen vielleicht nicht diesen Freiraum produktiven Denkens. Das ist ja ein Paradox: Washington ist in meinen Augen für die internationale Politik sehr viel wichtiger als für Amerika. Und Silicon Valley hängt nicht von Washington ab, sondern von den internationalen Märkten. Solange die Region Leute hervor bringt wie das Marketing-Genie Steve Jobs, kann Washington wenig blockieren. Dazu kommt die Haltung: Die Leute hier fragen sich nicht, ob ein Projekt steuertechnisch absetzbar ist, sondern machen sich an die Arbeit.

SZ.de: Welche Auswirkungen werden die Präsidentschaftswahl im November haben?

Gumbrecht: Ich habe Bush senior, Clinton, George W. Bush und Obama erlebt, doch für mich und meinen Alltag in Stanford hat das kaum eine Rolle gespielt. Bush junior ist ohne Zweifel Kandidat für den Titel des schlechtesten US-Präsidenten aller Zeiten, doch selbst die Tatsache, dass seine Außenministerin Condoleezza Rice von dieser Uni kommt, hat kaum eine Rolle für uns gespielt.

SZ.de: Aber für den Rest der Welt ist es doch wichtig, wer im Weißen Haus sitzt.

Gumbrecht: Das Paradox ist eben, dass für die Politik in China, Europa und Russland unsere Präsidentschaftswahl vielleicht wichtiger ist als hier für Kalifornien. Die Wahlen haben jedoch Symbolwirkung. Dass jemand wie Obama gewählt wurde, war außergewöhnlich positiv für uns. Meine Interpretation ist folgende: Die Europäer hätten es eigentlich am liebsten gehabt, wenn es die Amerikaner 2008 nicht geschafft hätten, den von ihnen entdeckten und so sehr geliebten Obama zum Präsident zu machen. Das wäre das Idealszenario für die europäische Häme gewesen.

SZ.de: Sie übertreiben!

Gumbrecht: Es gibt diesen Spruch, dass Deutschland Israel den Holocaust nie verziehen hat - und heute könnte man sagen, dass Deutschland der amerikanischen Wählerschaft nie verziehen hat, dass sie im Stande war, Obama zum Präsidenten zu machen. Den Europäern wäre es am liebsten gewesen, dass nur sie erkennen, wie großartig der Mann ist. Charismatisch, elegant, sieht gut aus, in Harvard ausgebildet, ein Hauch von Kennedy.

SZ.de: Basiert die von Ihnen konstatierte deutsche Überheblichkeit vielleicht auf der Enttäuschung, dass auch Barack Obama ein normaler Politiker ist - und kein Messias?

Gumbrecht: Man hat immer Perspektiven und Projekte auf Obama projiziert, die dieser gar nicht wollte. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Funktionseliten in Europa im Kern pazifistisch sind, und ich sage das als Sohn eines Majors der deutschen Luftwaffe. Dagegen dass die europäischen Eliten pazifistisch sind, ist gar nichts zu sagen, das ist eine Option, aber die hat man eben vorschnell auf Obama übertragen. Für ihn war immer klar, das Amerika seine Militärmacht braucht.

SZ.de: Gerade unbemannte Flugkörper setzt die CIA in seinem Auftrag sehr häufig ein.

Gumbrecht: Ich verfolge mit Interesse und Erstaunen, wie in der deutschen Presse über Drohnen geschrieben wird. Es mag gerade für die SZ provokant sein, dies zu sagen, aber ich finde, dass Drohnen ein technologischer Segen sind. Mit ihnen sind Interventionen möglich, für die früher viel mehr Menschen gestorben wären. Doch dieses Vorgehen passt eben nicht in die europäische Konsensebene. Obama hat schon im Wahlkampf klar gemacht, dass er kein Interesse an einem juristisch inszenierten Prozess gegen Osama Bin Laden hat.

SZ.de: Aber auch viele seiner Wähler sind heute unzufrieden.

Gumbrecht: Es gibt eine liberale Elite hier, etwa die Leser der New York Review of Books, die sind genauso enttäuscht wie die Europäer, aber sie haben wohl erwartet, dass Obama ein zweiter Martin Luther King wird. Wenn man sich von diesen falschen Erwartungen löst, dann ist seine erste Legislaturperiode gar nicht enttäuschend. Und so empfinde ich auch die Stimmung im Land, es ist a moment of recuperation, ein Moment der Erholung, aber es gibt keinen großen Pessimismus.

SZ.de: Ein weiteres Vorurteil: Eine gesellschaftliche Diskussion findet in Amerika sowieso nicht mehr statt, weil die Konservativen alle Fox News schauen, während sich die Liberalen bei MSNBC informieren und den New Yorker auswendig lernen. Es fehlt schlicht an der Basis für einen Dialog.

Gumbrecht: Wir haben hier einen Kollegen im Literatur-Department, der hält George W. Bush für einen der besten Präsidenten unserer Geschichte. Er ist auch ein sehr guter Germanist und keiner, der seine Meinung versteckt. Aber seine Haltung ist kein Problem, er ist trotzdem zum Präsident der eher linken Modern Language Association gewählt worden. Was ich damit sagen will: Wenn es um Politik in Washington geht, gibt es gewiss diese Spaltung, aber in meinem Alltag spielt diese keine große Rolle. Wenn sich Amerikaner heute treffen - beim Gottesdienst und der bible hour oder auch beim Sport - ist das Politische in den Diskussionen weniger präsent als in Deutschland. Und ich sehe nicht, dass dies ein Problem ist.

SZ.de: Ein weiteres Klischee: Republikaner und Demokraten unterscheiden sich so sehr wie Coca-Cola und Pepsi, also nur in Nuancen. Ist der Vergleich besser als Parallelen zu Christdemokraten und Sozialdemokraten zu ziehen?

Gumbrecht: Der Softdrink-Vergleich ist hämisch, weil er impliziert, dass beide miserabel sind. Wenn man eine Analogie ziehen will, dann haben die amerikanischen Demokraten eine gewisse Ähnlichkeit mit den christlichen Demokraten in Deutschland.

SZ.de: Aber die US-Demokraten stehen doch eher links.

Gumbrecht: Natürlich, aber die Demokraten haben einen gewissen sozialpolitischen Standard wie die Christdemokraten. Die wollen sich um die Leute in Upstate New York, denen es dreckig geht, kümmern, während der Republikaner das seiner Ideologie wegen ablehnen kann. In diesem Land kann sich keiner leisten, sich nicht über christliche Ethik zu definieren. Daher gibt es eine grundlegende Affinität zu den christlichen Parteien in Europa. Dass Barack Obama an Gottvater und Gottsohn nicht viel liegt, ist jedem klar, der Zeitung liest, aber er kann es sich nicht trotzdem leisten, nicht in die Kirche zu gehen oder die Töchter offen als Agnostikerinnen aufwachsen zu lassen.

SZ.de: Und wie sieht es mit den Republikanern aus?

Gumbrecht: Deren Entwicklung ist sehr interessant. Abraham Lincoln war Republikaner und das ist der Grund, weshalb etwa Condoleezza Rice Republikanerin ist. Einer ihrer Vorfahren ist unter Lincoln aus der Sklaverei entlassen worden. Deswegen war ihr Vater bei der Grand Old Party. Aber er war zugleich ein Duzfreund von Stokely Carmichael, dem Anführer der schwarzen Protestbewegung. Was beide vereint hat: Sie waren gegen weapon control. Condis Vater wusste, dass er im Alabama der sechziger Jahre seine Frau und seine einzige Tochter nur mit einem Gewehr gegen Rassisten schützen konnte. Und Stokely wollte Waffen für die Revolution. Einige Inhalte der Republikaner haben mit denen der Linken und Anarchisten in Europa mehr gemein als mit den Ideen der Demokraten.

SZ.de: Auch heute wirken viele Republikaner ziemlich anarchisch.

Gumbrecht: Für mich war John McCain der letzte respektable Republikaner. Ich habe 2008 nicht für ihn gestimmt, aber bei einem schwachen demokratischen Kandidaten hätte ich mir das durchaus vorstellen können. Die Tea Party ist ein grass roots movement wie die frühen Grünen, ebenfalls mit einer starken Werteorientierung. Sie sind im Wortsinn konservativ, nichts darf sich verändern. Wenn man das in Analogie zu faschistischen Bewegungen in Italien setzt, dann hat man nichts verstanden. Die Tea Party könnte gefährlich werden als eine Mentalität, die sich in wirtschaftlich schlechten Zeiten rasant ausbreitet: Die Leute würden sich in Massen weigern, Steuern zu zahlen.

SZ.de: Es geht den Tea-Party-Leuten vor allem darum, dass sich der Staat so weit wie möglich raushält.

Gumbrecht: Ein Protest gegen die Einmischung des Staates würde aber nie über Washington laufen, sondern nur regional. Die Republikaner sind heute vor allem eine Bewegung gegen den Föderalstaat. Es reicht ihnen, wenn man einen Sheriff hat, einen guten Elternbeirat und drei Kirchen. Sonntags nach dem Gottesdienst gibt es Barbecue und alle begeistern sich für College-Football.

SZ.de: Und die Probleme werden gemeinschaftlich gelöst.

Gumbrecht: Ja, im Zweifel hat jeder sein Gewehr parat. Das hat alles etwas sehr Gefährliches. Es gibt eine Affinität zwischen den Tea-Party-Anhängern und den Anarchisten. Damit sind wir wieder beim Vater von Condi Rice, die ich persönlich sehr gerne habe, Stokely Carmichael und den Waffen.

SZ.de: Was ist Ihr Eindruck von Mitt Romney, der ja auch die Tea Party umwerben muss? Kann er am 6. November gewinnen?

Gumbrecht: Ich halte es für unwahrscheinlich, dass je ein Mormone zum Präsidenten gewählt wird. Da Stanford an der Westküste liegt, sind wir die Standard-Uni für begabte Mormonen. Sie sind zwar extrem fundamentalistisch in ihrem Alltag, aber auch bereit und fähig, Philosophen wie Marx und Heidegger sehr intelligent zu diskutieren. Ich persönlich hätte kein Problem mit einem mormonischen Präsidenten. Aber ich bin der Meinung, dass im Gegensatz zu Europas Meinung die meisten US-Wähler die erste Amtszeit Obamas relativ gut bewerten. Im internationalen Vergleich ist Amerika gut in Form - und aus Profilmangel muss Romney versuchen, sich überall beliebt zu machen.

SZ.de: Das gelingt ihm nicht besonders gut.

Gumbrecht: Romney steht für die Abwesenheit des Staates und das artikuliert sich eben in dem alten Versprechen von niedrigen Steuern. Aber die meisten lässt er kalt. Ich bin da ein typisches Beispiel: Wenn er nicht ein ehemaliger Stanford-Student wäre, wüsste ich kaum etwas über ihn. Er ist einfach nicht interessant und er beunruhigt mich auch nicht. Ich bin überzeugt, dass Obama gewinnen wird - zwar nicht mit einem Erdrutschsieg, aber doch solide.

Anmerkung der Redaktion: Wegen eines redaktionellen Fehlers stand kurzzeitig eine in Teilen unredigierte Fassung des Gesprächs online. Wir bitten, dies zu entschuldigen.

Linktipp: Eine pointierte und bissige Antwort auf die Titelgeschichte des Spiegel über die erste Amtszeit Obamas veröffentlichte Hans-Ulrich Gumbrecht Mitte Juni im Feuilleton der Welt.

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