Bücher über den Ersten Weltkrieg:Wie vor 100 Jahren die Welt brannte

Britische Artillerie in Flandern, 1915

Feuerndes britisches Geschütz 1915 bei Arras in Flandern.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Mythen über den Ersten Weltkrieg, die bis heute lebendig sind. Briefe des Malers Franz Marc von der Westfront. Eine Biografie, die zeigt, wie morsch das kaiserliche Österreich 1914 war. Und Beschreibungen eines berühmten Veteranen, in dem der Krieg auch im Frieden weiter loderte.

Neue Buchempfehlungen von SZ-Chefredakteur Kurt Kister

Vom ermordeten österreichischen Thronfolger über die Schlacht von Verdun, den Feindbildern der Gegner bis hin zur Schuldfrage - in den vergangenen Monaten ist viel Literatur erschienen, die sich mit dem Ersten Weltkrieg, seinen Ursachen und seinen Folgen beschäftigt. Auch ältere Publikationen sind es wert, beachtet zu werden.

Kurz und bündig rezensiert SZ-Chefredakteur Kurt Kister einige Bücher, die helfen, den Ersten Weltkrieg besser zu verstehen.

Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora

In diesem Jahr sind viele sogenannte Gesamtdarstellungen zum Ersten Weltkrieg erschienen oder neu aufgelegt worden. Selbst der Interessierte steht manchmal in seinem Lieblingsbuchladen und fragt sich: Welches soll ich denn nun nehmen oder verschenken, den Clark, den Keegan, den Münkler, den Friedrich, den Ferguson ...

Wenn man nur eines der dicken Bücher lesen möchte, sei hier "Die Büchse der Pandora" empfohlen. Leonhardt, ein für einen deutschen Historiker nahezu auffällig guter Erzähler, malt ein Panorama des Großen Kriegs, das manchmal einem Panoptikum gleicht.

Das Personal reicht von der Familie Mann über den unbekannten Grabenkämpfer bis hin zu Kaiser Wilhelm II., Lenin und US-Präsident Woodrow Wilson. Zwar ist sein Buch chronologisch gegliedert und hat dennoch kaum etwas von jenen Abhak-Historien, die man in der Schule oder in der Universität zu fürchten gelernt hat.

Jens Bisky hat Leonhards Buch in der SZ als eine gelungene "große Synthese" gewürdigt. Das ist "Die Büchse der Pandora" wirklich. Selbst wenn man schon viel weiß, ist man nach dieser fast monumentalen Erzählung wenn nicht klüger, so doch gebildeter.

Alma Hannig: Franz Ferdinand

Über den Thronfolger, dessen Ermordung in Sarajevo die Weltgeschichte veränderte, gab es lange keine neuere Biografie mehr. Immer noch lesbar ist zwar Friedrich Weissensteiners Buch über den "verhinderten Herrscher", aber das stammte in der Erstauflage von 1983, was auch schon wieder lange her ist.

Alma Hannig, die an der Universität Bonn Geschichte lehrt, hat nun ein gut lesbares, hinreichend kritisches, auf dem Stand der Forschung befindliches Buch über FF vorgelegt. Biografien können einen sehr eigenen Zugang zu geschichtlichen Ereignissen oder, je nach dem Protagonisten der Biografie, auch zu einer ganzen Epoche geben. Letzteres ist bei Hannigs Franz-Ferdinand-Biografie der Fall.

An seiner Person erkennt man einerseits die Problematik des k. u. k. Vielvölkerstaates. Franz Ferdinand verabscheute geradezu die Ungarn und stand dagegen, so reaktionär er auch war, den Anliegen der Slawen näher. Dass er unter der Kugel eines serbischen Bosniers sein Leben ließ, ist nahezu tragisch (hier mehr zu Franz Ferdinand).

Andererseits wird in dem Buch auch deutlich, wie der österreichische Feudalstaat mit seiner zerfallenden Zentralfamilie, den Habsburgern, mehr oder weniger zielgerichtet der großen Katastrophe entgegenstolperte.

Franz Marc: Briefe aus dem Feld

Wenn man in München, Kochel oder anderswo vor seinen Bildern steht, mag man nicht glauben, dass Franz Marc Kriegsfreiwilliger war. Wie kann einer, denkt man, der diese Welt in blaue Pferde und eckige Füchse zu zerlegen verstand, der mit Farben und Formen das Dasein beatmete, der darüber auch noch schreiben konnte - wie kann so einer freiwillig zur Artillerie gehen und dann nach Hause schreiben, wie "glänzend" die 3. Batterie geschossen habe?

Marcs Kriegsbriefe, die neu vom Allitera Verlag der Münchner Stadtbibliothek herausgegeben worden sind, mögen dabei helfen, die Haltung von Intellektuellen und Künstlern zu Beginn des Kriegs besser zu verstehen.

Der Maler zählte nicht zu den Hurra-Patrioten. Aber er sah es als seine Pflicht an, in diesen Krieg zu ziehen, weil er nach Erneuerung und einem anderen Europa suchte - und das ausgerechnet als Unteroffizier und später Leutnant bei einer Munitionskolonne in Frankreich. Die Briefe Marcs an seine Frau sind zwar alle im Felde, wie es so schön hieß, geschrieben worden.

Viele aber lesen sich so, als sei Marc in einem freiwilligen, zumeist unkomfortablen, aber selten lebensgefährlichen Exil gelandet. Er träumt von daheim, er denkt über Tolstoi nach, er sinniert ein wenig über den Kriegsverlauf, aber viel mehr über die Sendung des Künstlers.

Die nahe Front ist oft nur akustische Untermalung für den Schöngeist, der da draußen glücklicherweise genug Strümpfe hat ("schick bitte keine mehr") und gerne über gelesene Bücher korrespondiert. Fast hat man das Gefühl, man sei in das Drehbuch einer Sendung von Arte über den Ersten Weltkrieg geraten.

Den letzte Brief in dem Buch entstand am 4. März 1916 vor Verdun. Da schrieb Marc den Satz: "Ja, dieses Jahr werde ich auch zurückkommen in mein unversehrtes liebes Heim, zu Dir und zu meiner Arbeit." Ein paar Stunden später traf ihn ein Granatsplitter am Kopf.

Georg Queri: Kriegsbüchl aus dem Westen

Noch ein Buch aus dem Allitera Verlag. Queri stammte aus Frieding bei Andechs, er starb 1919 in München und wurde in Starnberg begraben. Vor dem Krieg zählte er zu den mäßig unbotmäßigen bayerischen Autoren und Schriftstellern, die sich um den Simplicissimus und die Jugend scharten und mit der Obrigkeit eher um die Moral (zum Beispiel Queris derbes Buch "Kraftbayerisch") stritten als um Politik oder gar Krieg.

1914 begann Queri dann im Tross bayerischer Truppen die Westfront zu bereisen. Was dabei herauskam, ist ebenso interessant wie symptomatisch. Die Bayern werden als urige, sympathische Haudraufs geschildert, die Franzosen sind im Großen und Ganzen auch nicht unsympathisch (es sei denn, es handelt sich um Zuaven) und ein sonderbarer, krachlederner Schützenvereinshumor durchzieht die kleinen Stücke.

Man wähnt sich manchmal im Bauerntheater, allerdings in einem Bauerntheater, das mit dem Leibregiment und den Chevaulegers in den Krieg gezogen ist. Allerdings breitet sich auch der Leberknödel-Chauvinismus in dem Kriegsbüchl aus.

Am Schluss stehen ein paar Gedichte wie etwa das "Infanteristengsangl", das mit der Strophe beginnt: "Der Hauptmann gibt uns die Gewehr'/ Die krachens laut, und gehen los / Bummbumm / Adjes, adjes, Mushej Franzos."

So heiter schrieb man damals über den Krieg, so durch und durch reaktionär und weißblau unmenschlich wurden die ehedem sympathischen Bauerndichter Georg Queri oder Ludwig Thoma.

Ernst Piper: Nacht über Europa

Der aus München stammende Historiker Ernst Piper zeichnet in seinem umfangreichen, aber durchaus sehr gut lesbaren Buch die Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs nach.

Er schreibt nicht nur über die Kriegsgeneration der Schriftsteller, Maler und Lyriker, von denen viele zunächst begeistert waren, bevor das Grauen diese Begeisterung zunichtemachte.

Piper widmet sich auch jenen Mythen, die damals (und zum Teil bis heute) die Wahrnehmung des Krieges prägten: die Hunnen, also die Deutschen, und ihr Verhalten in Belgien zu Kriegsbeginn; die Feindbilder, die gepflegt wurden; die Rolle jüdischer Soldaten auf beiden Seiten angesichts eines verbreiteten Antisemitismus.

Das Buch ist ein umfassender Überblick über Geist und Ungeist der Kriegsjahre. Es ist in diesem Sinne auch eine erfrischend unakademisch geschriebene Geschichte jener Kultur, deren Protagonisten 1914 jubelten und 1916 verzweifelten.

Olaf Jessen: Verdun 1916

Der Begriff "Verdun" war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Frankreich und Deutschland das, was für die Deutschen nach 1943 "Stalingrad" bedeutete: eine Vernichtungsschlacht, in der Hunderttausende um des Durchhaltens willen zugrunde gingen (hier mehr dazu).

Jessen hat nun gewissermaßen eine Biografie dieser Schlacht geschrieben, die glücklicherweise mehr ist als nur Militärgeschichtsschreibung für die ohnehin Interessierten.

In dem Buch wird nicht nur deutlich, was "Materialschlacht" bedeutet, sondern man hat nach seiner Lektüre auch ein anderes Gefühl dafür, auf welch blutigem Grund sich die deutsch-französischen Beziehungen entwickelt haben. Verdun war die Schlacht um des Schlachtens willen, für das so schreckliche Bezeichnungen wie "Weißbluten" oder "Blutmühle" benutzt wurden.

Der Autor hat den Fehler vermieden, zu sehr wie ein Generalstäbler zu schreiben. Er erzählt die schreckliche Geschichte von Verdun und er tut dies auf beeindruckende, manchmal beklemmende Weise.

Christopher Clark: Die Schlafwandler

Über Clarks Buch ist in den vergangenen Monaten so viel geschrieben und gesagt worden wie über kein anderes Buch, das sich mit dem Ersten Weltkrieg auseinandersetzt. Dies hat damit zu tun, dass es in Deutschland die alte Kontroverse wiederbelebt hat, wer "schuld" am Weltkrieg sei.

Dabei ist Clarks Buch alles andere als die Antithese zur Fritz-Fischer-Schule, die auch nur unter anderem auf die Kriegszielpolitik des wilhelminischen Deutschlands hingewiesen hat.

Clark hat in Wirklichkeit ein im besten Sinne gelehrtes und dennoch sehr gut erzählendes Buch darüber geschrieben, wie und warum die Welt von 1910 an sich selbst zerbrach bevor sie an der Somme, am Isonzo oder an den Dardanellen blutig unterging. Es ist detailreich, manchmal detailistisch.

Aber gerade das hilft, wenn man verstehen will, warum und wie sich nach dem Attentat von Sarajevo dieser ungeheure Prozess entfaltete. Wer von all den vielen neuen Sachbüchern zum Weltkrieg nur ein einziges lesen will, der lese Clark. Danach wird er mehr lesen wollen.

Alexander Solschenizyn: August Vierzehn

Ein Roman, kein Geschichtsbuch. Oder: Kein Roman, ein Geschichtsbuch. 1971 erschien Solschenizyns Darstellung der Schlacht von Tannenberg 1914, die für Russland mit einer katastrophalen Niederlage endete und für Deutschland der Beginn jenes letztlich ebenfalls fatalen Mythos um den Marschall Hindenburg und seinen Majordomus Ludendorff wurde.

Solschenizyn schreibt: "Man kann sagen, daß die erste Niederlage für Rußland den ganzen Krieg bestimmt hat." In "August Vierzehn" zeichnet der Nobelpreisträger nach, warum ein verrottetes System die Schlacht und dann den Krieg verlieren musste.

Was gerade für deutsche Leser so interessant ist, ist die Tatsache, dass hier ein Russe, der an seiner später sowjetisierten Heimat verzweifelte, das Elend des Krieges gegen die Deutschen beschreibt.

Es wird deutlich, dass dieser Krieg eben nicht nur im Westen geführt wurde, sondern im Osten zwei kaiserliche Imperien mit Sitz in Sankt Petersburg und Wien stürzte. Und das Erbe des Weltkriegs im Osten ist bis heute virulent - von der Ukraine bis in die Türkei.

Rudolf A. Mark: Krieg an fernen Fronten

Schon der Untertitel dieses Buchs weist darauf hin, dass es hier um eine Nische in der Geschichte des Ersten Weltkriegs geht, die selten beleuchtet wird: die Deutschen in Zentralasien und am Hindukusch 1914-1924. Unter all den exotischen Weltgegenden, in denen sich der Große Krieg auch abspielte, war Zentralasien für die Deutschen mutmaßlich eine in mehrerlei Hinsicht sehr weit entfernte Region.

Es geht um klandestine Missionen von Ethnologen und deutschen Soldaten, deren Bemühen, mit Gold die Afghanen gegen die Engländer aufzuwiegeln, an die Bücher von Rudyard Kipling erinnert. Anderswo in Zentralasien versuchten Berliner Agenten den Dschihad gegen Russland zu befördern, in dem sie Muslime mit Rat, Tat und Geld unterstützten.

Mark berichtet nicht nur über die Versuche des Deutschen Reichs in Persien und Afghanistan während des Krieges Einfluss zu nehmen. Er schreibt auch über solche heute nahezu apokryphen Dinge wie den Dienst ehemaliger deutscher und österreichischer Kriegsgefangener in der sowjetrussischen Roten Armee, die eine wichtige Rolle bei der Eroberung des Emirats Buchara 1920 und den späteren Kämpfen in Turkestan spielten.

Das Buch ist nicht wie ein Page Turner geschrieben. Aber es öffnet Blicke auf einen weitgehend vergessenen Teil der Weltpolitik. Und es weckt Assoziationen an die Geschehnisse in der Region, in der seit Jahren wieder deutsche Soldaten im Einsatz sind - wenn auch erheblich mehr als damals.

Drei Büchlein von Ernst Jünger

"Der Kampf als inneres Erlebnis", "Feuer und Bewegung"

Die beiden Aufsätze von Ernst Jünger sollte jeder lesen, der sich dafür interessiert, wie der Krieg bei vielen seiner Überlebenden fortwirkte und ihr Weltbild formte. Vor allem "Feuer und Bewegung" ist eine sehr kompakte, typisch Jünger'sche Zusammenfassung dessen, was den Weltkrieg so neu, so ungeheuer, so zerstörerisch für Leiber und Seelen machte: der Krieg als Materialschlacht.

Jünger - und viele andere Veteranen unterschiedlicher politischer Überzeugungen - verstanden die Kriegserfahrung als die zentrale Wendemarke in ihrem Leben. Jüngers Faszination mit dem Typus des Arbeiters, hervorgegangen aus dem Typus des Frontsoldaten, ist in beiden Aufsätzen ebenso angelegt wie sein elitärer, aber auch fatalistischer Bellizismus.

Nicht unbedingt auf Jüngers Aufsätze, aber auf die Erfahrungen des Kampfs in den Gräben als inneres Erlebnis beriefen sich die Nazis um Ernst Röhm genauso wie der Rote Frontkämpferbund, das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold oder der Stahlhelm.

"Sturm"

Sicher, man kann von Jünger auch die "Stahlgewitter" lesen. Die Erzählung "Sturm" aber gibt einen konzisen Einblick in das Erleben und Denken jener Generation, die nach 1918 als "Frontgeneration" Deutschlands Werden und Verderben bestimmte. Otto Dix gehörte ebenso zu jener Generation wie Kurt Schumacher von der SPD, Ernst Jünger oder Adolf Hitler.

Jüngers namensgebender Leutnant Sturm lebt in einem Graben an der Westfront, in den er das Abendland und sein Bildungsgut mitgenommen hat. Dieses Abendland wird ihm von den Stahlgewittern zerfetzt, ohne dass der Leutnant und seine Freunde es unbedingt bemerken. Der Krieg wird für sie zum Ding an sich, zu einer tobenden Moderne ohne Zukunft. Es ist nur logisch, dass der Leutnant diesen Krieg nicht überlebt.

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