Literatur über IS-Terrormiliz:Der falsche Kalif und seine Tyrannei

Literatur über IS-Terrormiliz: Der Chef der IS-Terrorgruppe Abu Bakr al-Baghdadi in einer Moschee in Mosul Mitte 2014

Der Chef der IS-Terrorgruppe Abu Bakr al-Baghdadi in einer Moschee in Mosul Mitte 2014

(Foto: AFP)

Die radikalislamistische Bewegung "Islamischer Staat" hatte eine lange Inkubationszeit. Drei Bücher widmen sich den Fragen, was der IS ist, wie ihm begegnet werden soll - und was der Westen zu seinem Erstarken beigetragen hat.

Rezension von Rudolph Chimelli

Die Franzosen sprechen meist von "Daesch", wenn es um das islamische Terror-Syndikat in Syrien und im Irak geht. Weder Minister noch Medien gebrauchen in Paris gern den Begriff Islamischer Staat oder die Kürzel IS, Isis und Isil, weil sie schon einer verbalen Anerkennung von dessen Staatscharakter aus dem Weg gehen wollen.

Zwar bedeutet auch die arabische Abkürzung genau dies, aber die in ihr enthaltene Exotik bringt eine gewisse Entfremdung von der institutionellen Normalität des Westens.

In ihrer langen Inkubationszeit wurde die radikal-islamistische Bewegung meist unterschätzt oder gar nicht wahrgenommen, obwohl Fachleute durchaus sahen, was sich da anbahnte. Durch ihre sensationelle Brutalität löst sie heute eine Alarmstimmung aus, die über ihre effektive Macht weit hinausgeht.

Wenn Autoren das Phänomen erklären wollen, so stehen sie vor der Notwendigkeit, bei Adam und Eva anfangen zu müssen, denn dem fachlich nicht vorbelasteten Leser sind die Personen, Orte und Daten der Handlung kaum vertraut.

Hat sich die arabische Zivilisation ihre Wunden selbst geschlagen?

Das originellste der hier erwähnten Bücher ist zweifellos das von Loretta Napoleoni, die sich als Terrorismusexpertin ausweist - ein Fach, für das es keine festen Qualifizierungsmerkmale gibt. Der Anspruch des Titels hätte freilich genaueres Hinschauen erwarten lassen. So ist ihr nicht aufgefallen, dass die Schrift des Glaubensbekenntnisses auf der schwarzen Fahne von Daesch nicht golden, sondern weiß ist.

Übrigens führten schon in einem Film von John Ford aus den Dreißigerjahren, mit dem Kinder-Star Shirley Temple, die antibritischen Rebellen im Nordwesten Indiens - heute wären sie pakistanische Taliban - genau dieses Banner. Geschichte, Geschichte - und sehr alte Gefühle, die immer wieder ausbrechen werden, auch wenn der Islamische Staat einmal militärisch niedergekämpft ist.

Die Millionen, die heute mit ihm sympathisieren, werden sich neu formieren, immer wieder. Anders als die übrigen Autoren, bemüht sich Loretta Napoleoni um ein gewisses Verständnis für das Unternehmen des falschen Kalifen. So behauptet sie etwa: "Entgegen den Berichten westlicher Medien ist das Kalifat weder brutaler noch barbarischer als andere bewaffnete Organisationen der jüngsten Vergangenheit." Ihr bizarrer Beleg dafür: Auch in Kosovo hätten die Kämpfer mit den abgehackten Köpfen von Gegnern Fußball gespielt.

Im Herrschaftsgebiet von Daesch entdecken ihre Gewährsleute Suppenküchen, Straßenfeste, ein soziales Gesicht des Regimes und "sogar Spuren der Humanität". Das bringt Loretta Napoleoni zu der überraschenden Frage, ob es nicht besser wäre, "einen solchen Staat in die internationale Gemeinschaft zu holen und dadurch zur Respektierung des Völkerrechts zu zwingen". Der Kalif wird das nicht wollen.

Sowohl sie als auch Schirra sprechen den Westen von aller Verantwortung frei. Seine Sünden hätten allenfalls als Katalysator gewirkt. Die arabische Zivilisation, so Schirra, habe sich ihre Wunden selbst geschlagen. Die "Unschuld des George W. Bush" wird ironisierend erwähnt, so als hätten die Hunderttausenden Opfer des Krieges, den er mit erfundenen Gründen gegen den Irak vom Zaun brach, keine rachsüchtigen Erben hinterlassen sollen.

Ein fataler Fehler der westlichen Mächte war für beide Autoren nur, dass sie nicht rechtzeitig und massiv den syrischen Aufstand gegen Baschar al-Assad unterstützten. Hätten sie dieses Rezept befolgt, das in Libyen so katastrophale Folgen hatte, es würde heute in Damaskus ein Vertreter von al-Qaida oder Daesch regieren.

Zu diesem entschiedenen Urteil kommt Michael Lüders. Sein Buch ist eine Anklage gegen die leichtfertige Politik der USA und ihrer europäischen Jünger. Sie begriffen nichts, nicht einmal ihre eigenen Interessen in der Region und schon gar nicht die Gefühle der islamischen Völker.

In sieben Ländern haben die USA seit dem Jahr 2001 mit Truppen oder Drohnen interveniert, in Afghanistan, im Irak, in Somalia, Jemen, Pakistan, Libyen, Syrien. "In welchem dieser Staaten haben sich anschließend die Lebensbedingungen der Bewohner verbessert, zeichnen sich Stabilität und Sicherheit ab?", fragt Lüders. Jede militärische Intervention des Westens habe im Gegenteil Chaos, Diktatur, neue Gewalt zur Folge gehabt.

Die Verkündung der Ausbreitung von Demokratie und Menschenrechten wird in der Region als Heuchelei empfunden, denn in Wahrheit - so sehen es die Völker - geht es um Macht und Profite. Ohne den von den USA herbeigeführten Sturz Saddam Husseins und die anschließende Verheerung des irakischen Staates durch ignorante und auf Konfessionalismus abgerichtete Besatzungspolitik, schreibt Lüders, "würde es heute den Islamischen Staat nicht geben".

Wäre ein konsolidierter IS "die Wiedergeburt Saudi-Arabiens"?

Er weist darauf hin, dass noch nie in der Geschichte eine reguläre Armee eine Guerillabewegung besiegt hat. "Die Armee verliert, solange sie nicht gewinnt, die Guerilla gewinnt, solange sie nicht verliert" (so bereits Henry Kissinger im Hinblick auf Vietnam). Konsequenterweise sieht der Autor Daesch weniger als militärische denn als ideologische Gefahr und rechnet mit einem langen Konflikt. Und was selten jemand so deutlich sagt wie er: Ein konsolidierter IS wäre "die Wiedergeburt Saudi-Arabiens unter anderem Vorzeichen".

Ohnehin wird der Krieg nicht sehr energisch geführt. Lüders weist darauf hin, dass die USA pro Tag 60 bis 70 Luftangriffe fliegen (in Vietnam waren es bis zu 2000). Dabei bräuchte man in dem für Flieger, Drohnen, Satelliten völlig übersichtlichen Mesopotamien keine Dschungel zu entlauben wie in Indochina. Saudi-Arabiens langjähriger Geheimdienstchef, Prinz Turki Bin Feisal, bewertete die Luftoffensive als "Nadelstiche, die nichts bewirken".

Literatur über IS-Terrormiliz: Illustration: Stefan Dimitrov

Illustration: Stefan Dimitrov

Dass man absolute Luftherrschaft ganz anders nutzen könnte, zeigt ein Blick in die Vergangenheit. Nach der alliierten Landung in der Normandie konnten die Deutschen tagsüber keine Truppen mehr verschieben. Arsenal und Fuhrpark von Daesch müssten bei nachhaltiger Bekämpfung aus der Luft längst Schrott sein.

Auf dem Boden kämpfen gegen die mörderischen Islamisten ernsthaft nur die kurdischen Peschmerga, tapfer aber schlecht bewaffnet, sowie Relikte der irakischen Armee (unter amerikanischen Beratern) und schiitische Milizen unter Führung iranischer Elitetruppen. Ohne letztere wäre Samara längst gefallen, und Daesch stünde wahrscheinlich im Inneren Bagdads.

Was immer Schirra und Napoleoni selber erlebt oder aus guter Quelle erfahren haben, macht die Bücher äußerst lesens-wert. Ihre Analyse ist bisweilen anfechtbar. So sehen beide die Taliban als Vorläufer von Daesch, obwohl diese niemals Ambitionen für ein islamisches Weltreich hatten, sondern nur die Lebensformen des paschtunischen Dorfes durch Zwang für ganz Afghanistan verbindlich machen wollten.

Dass die Welt des falschen Kalifen und seiner Führungsriege intellektuell weniger dürftig ist als die der Vorgänger, sollte man bei uns durchaus zur Kenntnis nehmen. Der IS hat Techniker, Informatiker, Studierte von der Art, die Solschenizyn für die Sowjetunion einst "ausgebildet" nannte, im Unterschied zu "kultiviert".

Das ändert freilich nichts daran, dass das Gros der höchstens 50 000 Krieger von ihrer früheren Bedeutungslosigkeit motiviert wird, gescheiterte Existenzen, Versager: Ihnen, die Niemande waren, ist zu Kopf gestiegen, dass sie Herren über Leben und Tod sind.

Ob Daesch oder IS - die Organisation ist gefährlich, schon weil sie in einem Maße zur Basis terroristischer Unternehmen im Westen werden kann, wie al-Qaida dies niemals war. Aber sie ist keine den Weltfrieden bedrohende Großmacht wie einst das Dritte Reich oder das imperiale Japan. Daesch hat keinen industriell-militärischen Komplex und verfügt nur über geringes Of-fensiv-Potenzial. Das Territorium des IS - auf der Landkarte so groß wie Deutsch-land - besteht am Boden überwiegend aus Sand und darüber aus heißer Wüstenluft.

Für die betroffenen Syrer und Iraker ist Daesch eine lebensgefährliche Krankheit. Für die Nachbarstaaten droht Ansteckungsrisiko. Die Weltmächte aber behandeln den Islamischen Staat, jenseits aller Rhetorik, reapolitisch nicht als akute Gefahr. Ihre Kriegsmaschine läuft im kleinen Gang, nicht auf Hochtouren wie in den Golf-Konflikten oder Afghanistan.

Die Türkei sieht den IS offenbar als kleines Übel

Exemplarisch ist das Verhalten der Türkei, deren Generäle privat immer versichern, ihre Armee könnte in drei Stunden in Damaskus sein und dem Spuk ein Ende bereiten. Sie tut nichts.

Tatsächlich sieht Ankara, das sich mit den irakischen Kurden glänzend arrangiert hat, offenbar in einem Islamischen Staat jenseits seiner Südgrenze das kleinere Übel - verglichen mit einem autonomen syrischen PKK-Gebiet. Wie lange die Freude der etwa sechs Millionen Untertanen des Kalifen anhält, dass sie nicht mehr von den verhassten Schiiten in Bagdad, sondern von einem sunnitischen Tyrannen regiert werden, der ihnen sogar die Zigaretten verbietet, muss sich zeigen.

Militärisch wurde daraus ein Krieg der Unbegreiflichkeiten. Von den Quellen in ihrem Gebiet exportieren die Islamisten Öl für zwei Millionen Dollar pro Tag. Wenig ist so zerbrechlich wie Förderanlagen oder Raffinerien - die Bombardierung der Ölquellen hat in der vergangenen Woche begonnen.

Aber auf den Straßen in die Türkei und nach Jordanien rollen nach wie vor Kolonnen von Tanklastwagen. Ein Embargo gegen den IS wurde nie verhängt. Das wäre, so heißt es, dem Volk und den wirtschaftlich Interessierten nicht zuzumuten.

An den Grenzübergängen kassieren die Daesch-Wächter von jedem Gütertransport: Maut, Zoll oder Bakschisch? Niemand will es genau wissen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: