Litauen:Wie sich Litauer auf einen Krieg mit Russland vorbereiten

Litauen: Frühe Nato-Begeisterung: Ein junger Litauer lässt sich von einem US-Soldat während einer Übung ein Geschütz zeigen.

Frühe Nato-Begeisterung: Ein junger Litauer lässt sich von einem US-Soldat während einer Übung ein Geschütz zeigen.

(Foto: Mindaugas Kulbis/AP)

Viele Litauer glauben, ihr Land könnte nach der Krim das nächste Opfer Russlands werden. Sie hoffen auf die Nato - greifen aber auch selbst zu den Waffen.

Reportage von Tobias Matern, Vilnius

Nichts an diesem Mann erinnert an einen Krieger. Mittellanger Bart, braune, sanfte Augen, schelmisches Lächeln. Kristijonas Vizbaras trägt ein weißes Hemd, am Revers ist der Name seiner Firma eingenäht: Brolis Semiconductors. Lasertechnik, für den privaten Gebrauch, für Labore, für die Rüstungsindustrie. Die Geschäfte, sagt er, laufen gut, er reist viel, versucht noch mehr internationale Kunden zu gewinnen.

Brolis Semiconductors könnte auch im Speckgürtel von München Dioden fertigen, so wie viele andere kleine Hightech-Firmen. Doch nach seiner Doktorarbeit an der Technischen Universität München hat sich Vizbaras bewusst dafür entschieden, zurück in die Heimat zu gehen. Nach Vilnius, Litauens Hauptstadt.

Kristijonas Vizbaras sagt, er sei ein Patriot. Kein dumpfer, der die Welt mit Scheuklappen betrachtet, der andere Länder niedermacht, um sein eigenes aufzuwerten. Aber ihn treibe eine Liebe zu seiner kleinen Heimat an, die in Furcht umgeschlagen ist: "Wer als Litauer in Frieden leben will, muss für einen Krieg vorbereitet sein", sagt der 32-jährige Firmenbesitzer, verschwindet kurz ins Nachbarzimmer und wechselt vom Hemd mit Firmenlogo in den Tarnanzug.

Aus dem Physiker wird nun ein Kämpfer im Wartestand

Er packt das halbautomatische Sturmgewehr, deutsche Bauart, und die Glock-Pistole ein, geht zum Parkplatz, verstaut die Waffen im Kofferraum. Aus dem Physiker wird nun ein Kämpfer im Wartestand, der sich für den Ernstfall vorbereitet - heute steht Schießtraining auf dem Programm.

"Abschreckung und Verteidigung" - unter diesem Motto sitzen am Freitag und Samstag die Staats- und Regierungschefs der 28 Nato-Staaten in Warschau zusammen, um einerseits gegen Russland gerichtete Maßnahmen wie die Stationierung von Truppen im Baltikum und Polen zu beschließen. Und andererseits werden sie darum bemüht sein, ihre Dialogbereitschaft gegenüber Moskau zum Ausdruck zu bringen.

Nach Jahren der Out-of-Area-Einsätze wie in Afghanistan ist das nun wieder die Rückkehr zum alten, klassischen Verständnis des Bündnisses: Landesverteidigung, Planspiele für eine "Artikel-5-Welt", wie das im Nato-Jargon heißt - also das Zusammenstehen aller Bündnispartner für den Fall, dass ein Land attackiert wird: zum Beispiel Litauen.

Kristijonas Vizbaras empfindet dies wie viele seiner Landsleute seit der russischen Annexion der Krim im März 2014 nicht mehr als bloße Theorie. "Das hat uns komplett unvorbereitet getroffen", sagt er. Der junge Mann hofft nun auf den Warschauer Gipfel und dass wie geplant unter deutscher Führung etwa 1000 Soldaten in seinem Land, das an die russische Exklave Kaliningrad grenzt, stationiert werden. "Ich bin froh über die Bereitschaft der Nato, hier Präsenz zu zeigen", sagt Vizbaras während der Autofahrt zum Schießstand.

Auch die Großeltern von Kristijonas Vizbaras bekämpften die Besatzer

Tief sitzt in seiner baltischen Heimat die Erinnerung an die Vergangenheit, das Gefühl, Souveränität aufgeben zu müssen und fremdbestimmt zu sein. Litauen stand im Zweiten Weltkrieg unter deutscher Besatzung, wurde danach von der Roten Armee eingenommen, anschließend gegen seinen Willen in die Sowjetunion integriert. Tausende Litauer gingen in den Widerstand, auch die Großeltern von Kristijonas Vizbaras bekämpften die Besatzer.

Die mühsam errungene Unabhängigkeit, die das Volk 1991 nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion mit überwältigender Mehrheit in einem Referendum bekräftigte, leitete die Zeit der Neuorientierung ein. Litauen ist heute Teil der Euro-Zone und schon seit 2004 in der Nato. Für die meisten der knapp drei Millionen Bewohner dieses kleinen Staates ist die Mitgliedschaft in der Allianz eine beruhigende Tatsache in überaus bewegten Zeiten. "Als Kind wurde ich noch von Besatzern regiert, ich weiß, was es heißt, nicht unabhängig zu sein", sagt Vizbaras.

Sein Land hat nach der Zeitenwende dramatische Veränderungen erlebt. Vizbaras ist ein hohes Risiko eingegangen und gehört als erfolgreicher Firmenbesitzer zu den großen Gewinnern. Längst nicht alle Litauer sind in der Marktwirtschaft angekommen, ein Teil der Bevölkerung fühlt sich nach wie vor abgehängt. Nicht ohne Grund habe Litauen eine der höchsten Selbstmordraten weltweit, sagt Vizbaras. Gerade die junge Generation, die das meiste über die Zeit als sowjetischer Teilstaat nur noch aus den Schulbüchern kennt, empfindet Russlands Politik als bedrohlich.

In seiner Freizeit übt der Unternehmer schießen

Dass Litauen als Nato-Mitglied Teil des mächtigsten Militärbündnisses der Welt ist, reicht dem jungen Mann nicht. Er hat sich entschieden, selbst aktiv zu werden: "Verteidigung beginnt bei jedem Einzelnen", sagt er.

Vizbaras ist unmittelbar, nachdem Wladimir Putin die Krim annektieren ließ, der Lietuvos Šaulių Sąjunga beigetreten, der Litauischen Schützenunion. Die Bürgerwehr veranstaltet einerseits Sommerlager für Kinder, ähnlich wie die Pfadfinder. Aber dass sie ihre Mitgliederzahlen in den vergangenen zwei Jahren nach Angaben der Zentrale in Kaunas um etwa ein Drittel auf gut 10 000 erhöht hat, liegt vor allem an der Sorge, Russlands Präsident könne sich eines Tages überlegen, auch in Litauen einzumarschieren.

Viele Litauer greifen zur Waffe, lassen sich wie Kristijonas Vizbaras militärisch schulen. "Für mich ist das eine Notwendigkeit", sagt Vizbaras. Schließlich lasse Putin in Manövern genau solche Invasionsszenarien erproben, habe Russland seine Propaganda im Baltikum ausgedehnt. Er habe gar nichts gegen das russische Volk, aber Moskau sei schon seit Längerem "unberechenbar und irrational".

Natürlich ist das alles eine Frage der Perspektive. Moskau empfindet seinerseits die großen Nato-Manöver im Baltikum und in Polen als Provokation und nennt seine eigenen Übungen eine bloße Reaktion auf den westlichen Aggressor. Mindestens einmal in der Woche trifft sich Vizbaras mit seiner Einheit von der Schützenunion. Sie erhalten taktische Anweisungen von pensionierten Soldaten, hören sich Vorträge über Patriotismus an.

"Für ein kleines Land wie Litauen zählen jeder Mann und jede Frau"

Und regelmäßig verbringen die 15 Mitglieder der Einheit ihre Wochenenden im Wald, um ihre Fähigkeiten in der Guerilla-Kriegsführung zu trainieren. "Falls Russland angreifen sollte, wäre es unsere Aufgabe, den Kampf hinter feindlichen Linien zu führen", sagt Vizbaras.

Die litauische Armee nimmt die Schützenunion ernst, sie hält immer wieder mal gemeinsame Übungen mit ihr ab. "Für ein kleines Land wie Litauen zählen jeder Mann und jede Frau, die helfen, unsere Nation zu verteidigen", sagt Dalius Polekauskas, Stabschef der Landstreitkräfte.

Kristijonas Vizbaras hat 5000 Euro aus eigener Tasche für seine Ausrüstung ausgegeben. An diesem Tag lässt er sich von einem Afghanistan-erprobten litauischen Soldaten die Technik am Maschinengewehr genauer erklären. Der Schießstand, ein paar Kilometer außerhalb von Vilnius, ist vor allem an Wochenenden gut besucht, die Mitglieder der Schützenunion trainieren dann ihre Zielgenauigkeit.

Sandwälle säumen die Schießbahn, Vizbaras feuert Dutzende Salven ab. Stehend, liegend, erst mit dem Maschinengewehr, danach noch mit der Pistole - mit echter Munition. Danach schaut er sich die Einschüsse auf der Zielscheibe an, der Trainer lobt seine Genauigkeit. Für Kristijonas Vizbaras ist das hier kein Spiel.

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