Marschmusik dringt aus der imposanten, weißen Michaelskirche in Marijampolė beim Militär-Gottesdienst. Nebenan im Poesiepark knallt’s. Litauische Soldaten führen verschiedene Waffen vor und buchstäblich jedes Kind darf mal schießen. Andere Kinder werfen sich neben einem Soldaten auf den Bauch und schmeißen Handgranaten. Vorher bekommen sie eine olivgrüne Weste angezogen. Daneben stehen stolze Väter und fotografieren.
Es ist der „Tag der Ehrung der Partisanen und der Einheit von Armee und Gesellschaft“. Jedes Jahr wird er in Litauen gefeiert, dieses Jahr ist es 81 Jahre her, dass sich eine Partisanenarmee in die litauischen Wälder begab, um gegen die sowjetischen Besatzer und Kollaborateure zu kämpfen. Im ganzen Land sind Menschen am Samstag auf verschiedenen Wegen durch die Wälder gewandert, um der Partisanen zu gedenken. In Marijampolė fand die traditionelle Militärparade statt. Dazu eine Kriegsgeräteschau. Dafür wird jedes Jahr ein anderer Ort ausgewählt.
Dass der Festtag hier stattfindet, ist kein Zufall
In diesem Jahr fiel die Wahl auf die litauische Kleinstadt unweit der polnischen Grenze, gelegen in der sogenannten Suwałki-Lücke. Dieser etwa 100 Kilometer lange Landstreifen – sanft gewellt, blühende Rapsfelder, Wäldchen, ab und zu ein Wegkreuz – ist die einzige Landverbindung des gesamten Baltikums zu Polen und damit zu EU- und Nato-Gebiet. Südlich grenzt Belarus, nördlich die russische Exklave Kaliningrad. Gemeinsam könnten die miteinander verbündeten Staaten diese litauisch-polnische Grenze theoretisch besetzen. Es ist seit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 ein sehr lebendiger Nato-Albtraum geworden. Und es ist der Grund, warum genau an diesem Ort nun Stärke demonstriert werden soll.
Der 40-jährige Pavel, Glatze, langer Bart, besteigt mit seinem Sohn einen deutschen Panzer, Leopard 2A6. Auch auf anderen Panzern und dazwischen toben Kinder herum. „Das ist normal“, findet Pavel und lacht. Er sei selbst bei der Armee gewesen, sein Fünfjähriger soll später auch zum Militärdienst. Mit Waffen sollte zumindest jeder Mann umgehen können, findet der Vater. Zur Feier der Armee fährt er jedes Jahr. In diesem Jahr ist er extra aus der Hauptstadt Vilnius angereist.
Die litauische Armee hat laut Nato-Angaben im Moment etwa 15 000 aktive Soldaten, mindestens 20 000 sollen es werden. Dafür braucht es mehr Schulungspersonal und mehr Truppenübungsplätze. Bereits jetzt müssen alle volljährigen Männer zur Musterung, etwa 3000 werden jährlich zu einem neunmonatigen Wehrdienst eingezogen. Verteidigungsministerin Dovilė Šakalienė will die Zahl der Wehrdienstleistenden deutlich erhöhen. Schon in diesem Jahr sollen es 4500 sein, nächstes Jahr 6000, teilt sie der Süddeutschen Zeitung schriftlich mit.
Im Park schießen Panzer und Soldaten, die Menschen applaudieren
Am Samstagmittag steht die 46-Jährige auf dem Podium auf dem zentralen Festplatz in Marijampolė: „Armee und Gesellschaft sind untrennbar miteinander verbunden“, sagt Šakalienė. „Wenn die gesamte Nation hinter ihren Soldaten steht, wird Litauen unbesiegbar.“ Der Tag sei auch für sie persönlich wichtig, sagt sie später in einem kurzen Gespräch mit der SZ. „Meine Großeltern waren auch Partisanen.“ Ihre Großmutter sei wegen ihres Einsatzes bei den sogenannten Waldbrüdern – zu denen auch etliche Schwestern gehörten – von den Sowjets nach Sibirien deportiert worden. Ihre Mutter, sagt die Ministerin, sei in einem sibirischen Lager zur Welt gekommen.

Zumindest dieser Festtag in Marijampolė lässt keinen Zweifel daran, dass zwischen Bevölkerung und Armee kein Blatt passt. Es ist auch für das Land im Norden ein ungewohnt kühler Maitag, es regnet. Trotzdem sind viele Besucher gekommen. Zentrale Attraktion ist eine Übung im Poesiepark. Ein eigentlich friedlicher Park mit Spielplätzen, Baumgruppen, Skulpturen, Sitzbänken, der sich malerisch an den kleinen Fluss Šešupė anschmiegt. An diesem Samstag wird er zum Schlachtfeld, Soldaten am Fluss und Panzer weiter oben auf einer Brücke schießen, sofort fallen zwei Männer als „tot“ auf den Rasen. Andere werden später mit einem Hubschrauber „gerettet“. Der Show-Gefechtslärm ist ohrenbetäubend.
Väter heben Kleinkinder auf ihre Schultern, Zuschauer applaudieren. Ein Bundeswehrsoldat einer Panzerbrigade sagt nachher: „In Deutschland gäb’s das nicht, allein wegen des Lärmschutzes.“ Die Bundeswehr ist auf dem Fest in Marijampolė sehr präsent, stellt Kampfhubschrauber aus, organisiert für kleinere Kinder einen Späh-Pfad. Wer entdeckt den Gehörschutz, der in einem Baum hängt und den lauernden Feind dazu? Andere verteilen sehr erfolgreich Bundeswehr-Schlüsselbänder.
Bis 2026 sollen insgesamt 5000 Bundeswehrangehörige in Litauen stationiert sein, an diesem Donnerstag reist Bundeskanzler Friedrich Merz zum Aufstellungsappell der Panzerbrigade 45 in Vilnius. Auch Litauens Präsident Gitanas Nausėda soll teilnehmen, außerdem der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius. „Der ist auch bei uns in Litauen wahnsinnig beliebt“, schreibt Ministerin Šakalienė später per E-Mail. Sie freue sich schon darauf, ihn zu sehen.

Šakalienė selbst hat hier in Marijampole auch mindestens einen großen Fan. Mindaugas Petrauskas ist mit einer Tante extra aus Kaunas angereist, um sich die Militärschau anzusehen und sich ein bisschen mit den Bundeswehrsoldaten zu unterhalten. Die Ministerin hält er für sehr fähig. Früher habe sich die Psychologin für Kinderrechte eingesetzt, auch das gefällt dem 40-Jährigen. Es sei sehr wichtig, dass Litauen die deutsche Brigade bekomme, denn auf die USA unter Präsident Donald Trump sei ja nun kein Verlass mehr.
In die Bundeswehrsoldaten setzen sie hier große Hoffnung
Er habe früher Politikwissenschaft studiert, sagt der Mann mit dem kurzen grauen Stoppelhaar, sei aber derzeit arbeitslos. Die Arbeitslosenrate in Litauen liegt derzeit bei etwa 8,6 Prozent. Arbeitslosengeld wird nur neun Monate lang gezahlt und sinkt in dieser Zeit von zunächst 39 Prozent auf knapp 23 Prozent des letzten Monatsgehalts. Sollte Litauen vielleicht mehr in Soziales investieren statt in Verteidigung? „Nein“, sagt Petrauskas. „Je mehr in die Verteidigung investiert wird, desto besser.“ Jeder müsse sich verteidigen können, am besten solle jeder eine Waffe haben. In der Schweiz hätten die Reservisten doch auch eine Waffe zu Hause, das sei ein gutes System.
Emilia, langes, rotbraunes Haar, schwarze Lederjacke, weiße Turnschuhe, hat Tarnfarbe im Gesicht. Sie hat sich mit ihrer Tochter gemeinsam anmalen lassen. Auch sie würde ihr Land mit der Waffe verteidigen, sagt die 32-Jährige. Ihr Vater sei auch bei der Armee gewesen, als Minenentschärfer. Aber nun will Litauen erneut auch Landminen und Streubomben im Verteidigungsfall zum Schutz der Grenzen einsetzen. Das Land ist aus den entsprechenden internationalen Abkommen für ein Verbot ausgetreten.
Emilia findet das richtig, es gebe Litauen Sicherheit. Ihre Tochter werde bald in der Schule Zivilschutz und Verteidigung lernen, dazu gehört auch Wissen über die Versorgung von Verletzten. Kinder ab zwölf Jahren lernen so etwas in litauischen Schulen, sagt sie. Das sei beruhigend. Ebenso wie die Präsenz der vielen internationalen Soldaten. Einige hier tragen die Abzeichen Portugals, Tschechiens und der USA an ihren Uniformen. Jetzt will Emilia mit ihrer Tochter noch zu den Bundeswehrständen: „Die lächeln so nett.“
Es ist ein Geistlicher, der dann doch etwas Wasser in den Wein gießt. „Es tut uns nicht gut, wenn wir diese Kampfmaschinen auf den Straßen sehen“, hatte Mindaugas Sabonis mittags während des Festakts zum Publikum gesagt – auf Deutsch. Der Kaplan ist Seelsorger bei der litauischen Armee, am Priesterseminar in Erfurt hat er in den Neunzigern Deutsch gelernt. „Wir Litauer wollen keinen Krieg.“ Aber wenn ein Nachbar einen Krieg vorbereite, müsse man Abwehrbereitschaft zeigen. An die anwesenden deutschen Soldaten gewandt sagte er: „Danke, dass ihr hier seid. Mit euch haben wir weniger Angst.“
Später im persönlichen Gespräch sagt er, in den katholischen Gemeinden spüre er Zurückhaltung gegenüber der Aufrüstung. „Und alle fragen mich, ob es Krieg gibt. Auch meine Mutter.“ Als Gläubiger einen Krieg zu rechtfertigen sei nicht leicht. Doch wenn man in der Kirche von Liebe rede, müsse man auch über Gerechtigkeit reden. „Und Gerechtigkeit ist ja auch eine Form von Liebe.“