Litauen:Und jetzt alle!

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Wegen Corona war die Pause zuletzt sechs Jahre lang: Großes Konzert auf dem Liederfest 2018 in Kaunas. (Foto: Go Vilnius/Fotografas Karlas/Lithuanian National Culture Center/dpa)

Gemeinsames Singen ist in Litauen, Lettland und Estland bedeutend: Zum Liederfest in Vilnius, einer Massenveranstaltung mit Zehntausenden Besuchern, kommen viele Auswanderer zurück in ihre alte Heimat.

Von Viktoria Großmann

Was macht man an langen, hellen Abenden, wenn erst um 22 Uhr die Sonne untergeht, die Dämmerung noch fast bis 23 Uhr das Land in Zwielicht taucht? Natürlich, man singt. Am besten zusammen mit anderen Menschen, mit sehr vielen anderen Menschen. Mit so vielen Menschen, dass man Stadien und Fußballfelder füllen kann. So ist es in den baltischen Ländern Tradition. Die Unabhängigkeit Litauens, Lettlands, Estlands ist eng damit verbunden. Im August 1989 bildete sich als Höhepunkt der Singenden Revolution eine Menschenkette über alle drei Länder.

In dieser Woche versammeln sich in der litauischen Hauptstadt Vilnius Zehntausende zum Litauischen Liederfest, das in der Regel alle vier Jahre begangen wird, diesmal in der 100. Auflage. Ebenso traditionsreich ist das Lettische Lied- und Tanzfestival, das im vergangenen Jahr sein 150. Bestehen feierte. Und im nächsten Sommer richten die Esten ihr Laulupidu-Festival aus, das aufs Jahr 1869 zurückgeht.

Die Liederfeste der baltischen Staaten zählen zum immateriellen Weltkulturerbe

Erstaunlich sind die Massenveranstaltungen beim Singen, wenn man bedenkt, dass man in den litauischen und lettischen Wäldern eventuell sehr lange laufen muss, bevor man eine andere Menschenseele trifft, mit der man einen Kanon anstimmen kann. Denn die häufig als „kleine Länder“ bezeichneten baltischen Staaten sind ja eigentlich nicht klein, sie haben nur sehr wenige Einwohner. Gemeinsam sind die drei Ostsee-Anlieger etwa halb so groß wie die Bundesrepublik – auf dieser Fläche leben aber nur gut sechs Millionen Menschen.

Wegen Corona war die Pause sechs Jahre lang: Großes Konzert auf dem Liederfest 2018 in Kaunas. (Foto: Go Vilnius/dpa)

Zum Liederfest kommen viele Auswanderer zu Besuch in die alte Heimat. Aus Kanada, Argentinien, den USA, aus insgesamt 21 Ländern reisen sie dieses Jahr an, um sich dem immateriellen Unesco-Weltkulturerbe zu widmen. Die Liederfeste aller drei Länder wurden im vergangenen Jahr auf diese Liste gesetzt.

Und wenn die Litauer gerade nicht in ihre Heimat zurückkonnten, dann sangen sie in der Fremde. Eine Ausstellung mit Plakaten aus der Geschichte des Litauischen Liederfests in Kaunas erinnert daran. Wie etwa 1946 ausgerechnet Würzburg zum Ort eines Liederfestes in der Diaspora wurde. Im Land der früheren Besatzer hatten einige Litauer Zuflucht vor den neuen, sowjetischen Besatzern genommen. Selbst in sibirischen Lagern organisierten sich die Verbannten ein Liederfest.

Auch in den Jahrzehnten, als ihre Länder sowjetische Teilrepubliken waren, sangen die Litauer, Letten und Esten weiter – fanden in den Achtzigerjahren zunehmend den Mut, Volkslieder in ihren eigenen, unterdrückten Sprachen anzustimmen. Chöre, die man in Moskau hören sollte.

Ein Anspruch, den in diesem Jahr auch die Sängerinnen des Kozachka-Ensembles aus der Ukraine haben werden. Singen nicht nur zur Freude, sondern auch für die Unabhängigkeit ist immer noch in Mode.

Zum Abschluss am 6. Juli werden auf einer Freilichtbühne im Stadtwald von Vilnius 13 700 Mitglieder verschiedener Chöre erwartet. „Mögen die grünen Wälder wachsen“ ist das Motto des Tages. Halb neun am hellen Abend wird angestimmt. Und wohl erst, wenn das Tageslicht zerfließt, werden die letzten Töne über den Wipfeln verhallen. Und man weiß doch: Wie man in den Wald hineinsingt, so singt er heraus.

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