Süddeutsche Zeitung

Linkspartei:Sahra Wagenknecht, die Buhfrau

Lesezeit: 4 min

Von Jens Schneider, Leipzig

Es ist einige Minuten nach zwölf Uhr mittags an diesem Sonntag, als der Parteitag der Linken aus den Fugen gerät. Gerade hat Sahra Wagenknecht ihre Rede als Fraktionsvorsitzende gehalten. Es ist ihre erste Wortmeldung auf dieser Tagung. Seit dem Freitag hat sie zumeist reglos in der ersten Reihe gesessen. Sie hat den Parteichefs nach deren Reden so müde applaudiert, dass gar kein Applaus freundlicher gewesen wäre. Nun steht sie da im zitronengelben Kostüm und macht erst mal das, was sie am besten kann.

Die Ikone der Linken empört sich über "nackte ausbeuterische Gewalt" im hiesigen Wirtschaftssystem: "Der Papst hat doch recht: diese Wirtschaft tötet." Scharf warnt sie vor den Folgen eines Rechtsrucks im Land. Die Linke solle "lieber darum kämpfen, dass Gaulands AfD zu einem Vogelschiss in der deutschen Geschichte wird", ruft sie aus. Im Saal werden rote Fahnen geschwenkt. Einige Genossen springen auf und johlen, aber wenn man an den Reihen entlang geht, fällt auf, wie viele starr dasitzen, keine Hand rühren, und dass einige voller Zorn zu den Saalmikros streben.

Bei einer spontan angesetzten Debatte zur Flüchtlingspolitik gibt es hundert Redeanträge

Es ist der Moment, in dem der Parteitag nach zwei Tagen endlich anfängt offen über das zu streiten, was die Linke seit Monaten lähmt: den internen Streit über die Flüchtlingspolitik. Denn Wagenknecht hat in ihrer Rede, wenn auch in wenigen Sätzen, erstmals vor der Parteibasis das gesagt, was ihre Genossen sonst nur aus Interviews erfuhren - und was viele verstörte. Sie hat sich zwar dazu bekannt, dass Verfolgte in Deutschland Asyl erhalten müssen, aber dann in Frage gestellt, "ob es für Arbeitsmigration Grenzen geben sollte, und wenn ja: wo sie liegen?" Und machte deutlich, dass sie die Forderung "offene Grenzen für alle" für falsch hält.

Genau diese Formel drückt für viele Linke ihr Selbstverständnis in der Flüchtlingspolitik aus. Die Tagesordnung sieht nach Wagenknechts Rede keine Debatte vor, aber drei Nachfragen. Diese drei Nachfragen aber wirken wie eine Entladung, und Wagenknecht heizt die Stimmung mit ihren Antworten weiter an.

Am Saalmikrofon steht Elke Breitenbach, sie ist Sozialsenatorin in Berlin. Sie kann vor Wut kaum an sich halten, sie will es auch nicht. "Sahra, du zerlegst gerade die Partei", wirft sie der Fraktionschefin vor. "Du ignorierst die Position der Mehrheit dieser Partei. Ich bin nicht mehr bereit, das hinzunehmen." Wagenknecht antwortet, dass "den Hungernden in Afrika offene Grenzen nichts nützen", weil die meisten gar nicht nach Europa kommen könnten, man solle ihnen vor Ort helfen. Sie wird von einigen laut ausgebuht - in dieser Heftigkeit ein Novum auf einem Parteitag der Linken.

Derart aufgewühlt beschließt die Basis, die Tagesordnung umzuwerfen und für eine Stunde über die Flüchtlingspolitik der Linken zu reden. Es gibt, das zeigt den großen Redebedarf der Partei, hundert Wortmeldungen. Man könnte leicht bis zum Montagmittag weiter streiten, mindestens.

Es entwickelt sich eine hoch emotionale Debatte, wie sie eigentlich schon am Samstag nötig gewesen wäre, als die Linke in einem Leitantrag fast ohne Gegenstimmen ein Bekenntnis zu offenen Grenzen ablegte - ohne Widerspruch von Wagenknecht.

Nun werfen viele Genossen ihr vor, dass sie diesen Leitantrag nicht zur Kenntnis nehme und damit den Parteitag ignoriere. In den letzten Wochen und Monaten hatte die Parteispitze diesen Antrag vorbereitet und intern diskutieren wollen. Aber es wurde dazu keinerlei Widerspruch laut in den Gremien der Partei, auch nicht auf sechs Regionalkonferenzen. Wagenknecht beteiligte sich daran nicht, ihre Interviews wirkten auf die Genossen und auch die beiden Vorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger wie ein ständiges Störfeuer, das mehr Resonanz in den Medien bekam als die Beschlüsse der Partei.

Wagenknecht sagt in Leipzig dazu, dass sie es nicht sinnvoll fand, auf dem Parteitag in Anträgen zu polarisieren. Aber das nehmen ihr nicht alle ab. Sie meinen, sie habe schlicht gewusst, dass sie mit ihren Anträgen in der Minderheit gewesen wäre.

Der Fraktionschefin wurde aus den eigenen Reihen vorgeworfen, dass ihre Vorschläge "AfD light" seien. Sie nennt das infam, und in der spontanen Debatte gibt es nun einige, die sie gegen solche Etiketten verteidigen: "Unser Gegner ist nicht in diesem Raum!" Man solle doch nicht vergessen, wo der Feind der Linken stehe.

Kipping wird als Parteichefin wiedergewählt - mit ihrem bisher schlechtesten Resultat

Aber es wird auch inhaltlich heftige Kritik an Wagenknecht geäußert. Die Wirtschaftsflüchtlinge, die nach Deutschland kämen, seien Opfer der internationalen Wirtschaftsordnung; viele müssten sich wegen der Klimakatastrophe auf den Weg machen. Auch diesen Menschen müsse unbedingt geholfen werden, wird ihr entgegengehalten.

Lösen kann man den Zwist an diesem Tag nicht. Aber nach einer Stunde stehen die vier Spitzen der Partei auf der Bühne, deren persönlicher Streit den Zoff wegen der Flüchtlingspolitik oft überlagerte - vor allem die Rivalität zwischen Wagenknecht und der Vorsitzenden Kipping. Auch wegen dieser Querelen hatte die Spitze bei ihrer Wiederwahl am Samstag schwache Ergebnisse geerntet - ohne Gegenkandidaten. Kipping bekam nur 64,4 Prozent der Stimmen, ihr bisher schlechtestes Resultat. Für Riexinger stimmten 73,8 Prozent, er lag deutlich unter seinem Wahlergebnis vom letzten Parteitag.

Nun haben die beiden Spitzenfrauen sich mit ihren Ko-Vorsitzenden Riexinger und Dietmar Bartsch im Hintergrund verständigt auf einen "gemeinsamen Verfahrensvorschlag". Es sei doch "super, dass wir hier zu viert stehen", ruft Riexinger aus. "Ich glaube, dass diese Debatte notwendig war." Weil es weiteren Diskussionsbedarf gebe, wollen Parteivorstand und Fraktion eine gemeinsame Klausur machen. Für die Basis schlagen die vier eine Fachkonferenz zur Flüchtlingspolitik vor. Die Vier bekunden Einigkeit. Wagenknecht sagt: "Ich finde, wir haben doch auch gesehen, in wie vielen Themen wir gemeinsame Positionen haben." Sie wirbt: "Konzentrieren wir uns auf das, was uns stark macht. Stellen wir das Gemeinsame in den Mittelpunkt."

Bodo Ramelow, der Thüringer Ministerpräsident, beginnt danach verspätet mit seinem Grußwort. Die Debatte habe gezeigt, "dass wir unsere Probleme nicht unter den Teppich kehren dürfen", sagt er. Dann nämlich würde man nur über den Teppich stolpern.

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Quelle:
SZ vom 11.06.2018
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