Süddeutsche Zeitung

Linke:Die Mathematik des Hufeisens

  • Die relativ unbekannte Politikerin Amira Mohamed Ali wird neben Dietmar Bartsch neue Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag.
  • Die Parteivorsitzenden Kipping und Riexinger hätten sich lieber eine andere Kandidatin gewünscht.
  • Die Lagerbildung in der Partei hat bei der Wahl eine wichtige Rolle gespielt.

Von Boris Herrmann, Berlin

"Danke, Sahra! Das war's noch lange nicht", hat Dietmar Bartsch seiner bisherigen Partnerin an der Fraktionsspitze der Linken zum Abschied zugerufen. Tatsächlich darf man davon ausgehen, dass von Sahra Wagenknecht, 50, weiterhin zu hören sein wird: als Bundestagsabgeordnete, als Buchautorin, als Talkshow-Profi, als passionierte Streitfigur. Aber mit Wagenknecht in der ersten Reihe der Berliner Politik war's das jetzt eben doch. Sie hatte bereits im März angekündigt, sich vom Fraktionsvorsitz zurückziehen zu wollen. In das Chefbüro neben Bartsch wird nun Amira Mohamed Ali, 39, einziehen.

Mohamed Ali setzte sich am Dienstagnachmittag in einer Kampfabstimmung um den Fraktionsvorsitz gegen Caren Lay, 46, durch. Mohamed Ali erhielt im zweiten Wahlgang 52 Prozent der Stimmen. Für den männlichen Teil der Doppelspitze war Bartsch, 61, der einzige Kandidat, er wurde mit knapp 64 Prozent wiedergewählt. Wagenknecht sagte nach der Wahl: "Ich gehe mit mir im Reinen."

Harmonischer als bisher wollen sie jetzt fast alle sein bei der Linkspartei. Es gibt in der Fraktion eine Sehnsucht, endlich nicht mehr als zerstrittener Haufen wahrgenommen zu werden, sondern als arbeitsfähige Mannschaft. Damit enden die Gemeinsamkeiten aber auch schon wieder. Es ist kein Geheimnis, dass die Parteivorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger sich lieber Caren Lay an der Fraktionsspitze gewünscht hätten, und dass sich Bartsch auch deshalb hinter Mohamed Ali stellte, um Lay zu verhindern.

Es geht mehr um Macht als um Inhalte

Dabei stehen Lay und Bartsch einander politisch näher als Bartsch und Mohamed Ali, die dem Wagenknecht-Flügel zugerechnet wird. Bei dieser Wahl ging es aber weniger um inhaltliche Konzepte als um die komplexe Machtarithmetik in der Fraktion. Diese wurde in den vergangenen Jahren bestimmt vom sogenannten Hufeisen, einem Zweckbündnis zwischen Bartschs Reformer-Lager und dem antikapitalistischen Wagenknecht-Fanklub.

Knapp die Hälfte der Abgeordneten sah sich aber weder von der einen noch von der anderen Hufeisenseite repräsentiert. Gerade Bartsch hat langjährige Vertraute verprellt, weil er trotz Wagenknechts Rechtsschwenk in der Flüchtlingspolitik an dem Bündnis festhielt. Zu diesen Verprellten gehört auch Lay. Ihre Kandidatur war der Versuch, das Hufeisen zu sprengen. Hinter Mohamed Alis Gegenkandidatur steckte der Plan, das Hufeisen zu retten. Insofern ist diese Wahl allemal eine Richtungsentscheidung für die Linke. Die Richtung ist nun ein beherztes "Weiter so!".

Dabei verbanden mit Wagenknechts Abschied viele Abgeordnete die Hoffnung auf einen Neuanfang. In der Partei macht sich gerade zarte Aufbruchsstimmung breit, nach dem Wahlerfolg in Thüringen robbt sich die Linke auch in Umfragen auf Bundesebene wieder an die Zehn-Prozent-Marke heran. Konsens herrscht darüber, dass jetzt sogenannte Sachthemen im Vordergrund stehen müssen, wenn der Trend bis zur nächsten Bundestagswahl anhalten soll. Diese Einsicht scheint jedoch noch nicht dazu zu führen, die gut einstudierte Lagerbildung zu überwinden.

Zur sozialen Frage hat man von der neuen Fraktionschefin bislang wenig gehört

Beim Blick in die Lebensläufe der beiden Bewerberinnen um den Fraktionsvorsitz, werden wohl wenige daran zweifeln, dass Lay die logischere Wahl gewesen wäre. Sie war Bundesgeschäftsführerin, stellvertretende Parteivorsitzende und Fraktionsvize. Auf ihrem Kerngebiet, der Mietenpolitik, hat sie sich für höhere Ämter empfohlen. Hätte sich Dietmar Bartsch laut und deutlich für Lay ausgesprochen, wäre wohl niemand gegen sie angetreten. Doch Bartsch hat vernehmbar geschwiegen.

So wird nun Sahra Wagenknecht, die mit Abstand bekannteste Politikerin der Linksfraktion, ausgerechnet von einer der unbekanntesten abgelöst. Wenn man sich im Parteivorstand nach Mohamed Ali erkundigt, dann heißt es, man kenne sie bisher zu wenig, um das einschätzen zu können. Selbst ihre Unterstützer geben zu, dass sie bislang nicht unbedingt zu den politischen Schwergewichten der Fraktion gehörte. Aber das war in diesem Fall offenbar kein Hindernis, sondern eher eine Chance. Die neue Chefin war bislang weder im Positiven noch im Negativen aufgefallen. Sie hatte weder Wagenknecht noch Kipping oder Bartsch öffentlich kritisiert. Das können in dieser Partei die wenigsten von sich behaupten. Das machte sie aber auch für Abgeordnete jenseits ihres linken Lagers wählbar - und zur Überraschungssiegerin.

Lay und ihre Unterstützer hatten durchaus einkalkuliert, dass es eine Gegenkandidatin geben würde. Aber sie haben sicher nicht mit dieser Gegnerin gerechnet. Die Meinungsführerinnen im Wagenknecht-Lager wie Sevim Dağdelen oder Heike Hänsel wären definitiv nicht mehrheitsfähig gewesen, heißt es aus Fraktionskreisen.

Die neue Fraktionsvorsitzende Amira Mohamed Ali sitzt erst seit 2017 im Bundestag. Sie wurde in Hamburg geboren, lebt aber seit vielen Jahren in Oldenburg, wo auch ihr Wahlkreis ist. Die Rechtsanwältin hat eine deutsche Mutter und einen ägyptischen Vater. Gerade zum Markenkern der Linken, zur sozialen Frage, hat man von ihr bislang wenig gehört. Auch parteiinterne Kritiker räumen ein, dass sie sich bei ihren Schwerpunktthemen Verbraucherschutz und Tierschutz gut auskenne. Aber ob das reicht, um in die Fußstapfen von Gregor Gysi und Sahra Wagenknecht zu treten? Ein Abgeordneter sagt, er gebe in der Fraktion "große Irritationen", dass Mohamed Ali aus dem Nichts in die erste Reihe gehievt wurde. Es sei Bartsch wohl darum gegangen, eine möglichst schwache Co-Vorsitzende neben sich zu haben. Nach neuer Harmonie klingt das nicht.

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SZ vom 13.11.2019/saul
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