Süddeutsche Zeitung

Linke-Fraktionschef Gregor Gysi:"Willy Brandt gehört jetzt uns!"

Der Tanz muss leider ausfallen, aber Gregor Gysi bringt die Genossen zum Hüpfen: Auf dem von langen Diskussionen geprägten Bundesparteitag ermahnt der Fraktionschef die Linken, endlich mit der Selbstzerfleischung aufzuhören, die Sprache den Zuhörern anzupassen und der SPD auf die Sprünge zu helfen. Gysi erklärt der Linken die Welt, und der Welt erklärt er die Linke. Dann herrscht gute Laune.

Michael König, Erfurt

Der Tanzabend ist abgesagt, aber es gibt ja noch Gregor Gysi. Die Linken haben anstrengende Stunden hinter sich. Der Abstimmungsprozess zum neuen Grundsatzprogramm, dem ersten seit der Vereinigung von PDS und WASG im Jahr 2007, zieht sich hin. Am Freitag tagen die etwa 500 Delegierten bis spät in die Nacht. Am Samstag wird wegen der Verzögerung im Zeitplan der Tanzabend abgesagt. "Aber ich wollte mit einem Sachsen tanzen", wehrt sich ein Parteimitglied. Ihr Antrag wird mehrheitlich abgeschmettert.

Überhaupt gibt es meist komfortable Mehrheiten. Eine Überraschung ist - mal abgesehen von der Entscheidung, langfristig alle Drogen zu legalisieren - nicht dabei. Der Rhythmus ist schleppend, der Takt hinkt zwei Stunden hinterher. Tanzen könnte man dazu nicht. Dann kommt Gysi.

Der Fraktionschef der Linken im Bundestag hat die rhetorische Pauke mitgebracht. Die kesselt schmerzhaft in den Ohren, aber sie macht wach. Und sie übertönt manch unschönes Geräusch.

Gerade noch hatten sich die Linken gezankt, ob es sinnvoll sei, eine neu zu gründende Hilfstruppe mit dem Namen des SPD-Bundeskanzlers Willy Brandt zu versehen. So wie es Oskar Lafontaine will, der Saar-Fraktionschef und Schatten-Spitzenkandidat. Brandt sei Friedensnobelpreisträger, sagt Gysi, die SPD sehe jedoch den Krieg als das letzte Mittel der Politik an. "Deshalb gehört Willy Brandt jetzt uns!"

Bravo-Rufe, langer Applaus. Gysi gelingt es in wenigen Sätzen, bei vielen Parteiflügeln umstrittene Postionen zum Konsens zu machen. Und weil das so gut klappt, hält er es die gesamte Rede über durch. Gysi erklärt den Linken die Welt, und der Welt erklärt er die Linke. Da gibt es so einiges, was zuletzt eher unklar war.

Zum Beispiel die Selbstzerfleischung der vergangenen Wochen. Mauerbau-Bewertung, Fidel-Castro-Glückwünsche, Demontage der Parteivorsitzenden Klaus Ernst und Gesine Lötzsch. "Wir hatten in den letzten Monaten zu viel Selbstbeschäftigung, die macht uns kaputt!" Applaus. "Die Hartz-IV-Empfänger, die haben wirkliche Probleme. Und dann lesen sie jeden Tag in der Zeitung über uns: A will, dass B geht, und B will, dass A geht. Damit erledigen wir uns politisch, das können wir uns nicht leisten!" Donnernder Applaus.

Immer wieder geht Gysi auf die SPD ein, der Lieblingsgegner bei diesem Parteitag. Zwar sei die "nicht unser Feind", wie Gysi sagt. "Wir haben nichts gegen die Zusammenarbeit, aber sie müsste wenigstens wieder sozialdemokratisch werden. Ohne uns werden die das nie. Wir sind eine Art Hilfe für die SPD, das haben die nur noch nicht bemerkt!"

Sich an Gegnern aufzurichten, ist manchmal weniger anstrengend, als das ohne Hilfe zu tun. Die "lieben Journalisten" sollten jetzt genau zuhören, sagt Gysi. Die Forderung nach einer langfristigen Freigabe auch harter Drogen, am Vormittag mit knapper Mehrheit ins Grundsatzprogramm aufgenommen, habe zu Missverständnissen geführt: "Ich möchte, dass die Süchtigen nicht länger kriminalisiert werden. Das bringt nichts, das ist falsch." Aber: "Die Dealer, die Zuträger, die Drogenbarone, die haben uns zu fürchten. Selbstverständlich müssen die bestraft werden!"

Und die Flügelkämpfe? Am Freitag waren etliche Anträge der NRW-Linken abgebügelt worden, die in Nordrhein-Westfalen die rot-grüne Minderheitsregierung toleriert. Die Reformer beklagen sich, von den Radikalen an die Wand gedrückt zu werden. Gysi aber sagt, die verschiedenen Strömungen seien ein Alleinstellungsmerkmal der Linken.

Leidenschaftliche Debatten seien erlaubt: "Politik wird nur zur Hälfte mit dem Hirn gemacht, zur anderen Hälfte mit dem Herzen. Er sei aber Zentrist und wolle Reformer und Radikale "halten und beide gewinnen für die Partei, denn das ist eine Existenzfrage!"

Beinahe der ganze Saal applaudiert, die Lethargie der vorigen Stunden ist passé. Die offenen Personalfragen - das Führungsduo Lötzsch/Ernst ist weiterhin umstritten, Lafontaine und Wagenknecht streben auf die bundespolitische Ebene - bekomme man "schnell wunderbar organisiert", verspricht Gysi. Und die mauen Umfragezahlen von etwa sechs Prozent seien auch vor allem der Selbstbeschäftigung geschuldet. "Und unsere Sprache, unsere Sprache!" Das Programm sei ja gut, aber ob man es nicht in Prosa übersetzen könne?

Im Übrigen, sagt Gysi, habe der Papst gesagt, das Christentum gehe auf den Gedanken zurück, dass alle Menschen gleich seien. "Wenn es Christus noch gäbe, wäre er ein sehr kritisches Mitglied unserer Partei." Da lachen die Genossen und spenden dem Redner minutenlangen Applaus. Getanzt wird nicht an diesem Abend in Erfurt. Aber einige Linke hüpfen vor Freude.

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