Linke:Einsame Mahnerin

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Katja Kipping glaubt, sie kämpfe für den „einzigen ehrlichen Ausweg“ aus der Krise. In ihrer Partei steht sie damit aber ziemlich allein. (Foto: Christian Spicker/imago)

Das erstaunliche Corona-Spektrum der Linken: Parteichefin Kipping hantiert mit siebenstelligen Todeszahlen - an die Spitze der von ihr kritisierten "Lockerungslobby" aber setzt sich ein Parteifreund.

Von Boris Herrmann, Berlin

Die politische Auseinandersetzung ist auch ein Geschäft mit der Rechthaberei. Deshalb klingt es erst einmal erfrischend, wenn Katja Kipping, die Parteichefin der Linken, am Telefon sagt: "Ich hoffe nach wie vor, dass ich nicht recht behalte mit meiner Prognose."

Das wäre in diesem Fall auch niemandem zu wünschen. Zu Kippings Prognose gehören nämlich Tote. Viele Tote. Sie befürchtet, dass die Deutschen mit ihrer aktuellen Lockerungseuphorie geradewegs auf eine zweite Infektionswelle zusteuern. Kipping hat ihr Szenario mit den gängigsten Mortalitätsraten durchgerechnet, die derzeit so kursieren. Je nachdem, welche Zahl sie da zugrunde legt, kommt eine Summe von Corona-Todesopfern heraus, die der Bevölkerung von Erfurt entspricht oder der doppelten Einwohnerzahl von Dresden. In Erfurt leben etwa 210 000 Menschen, in Dresden gut 560 000. "Man kann nur hoffen, dass die Maskenpflicht und die Arbeit der Gesundheitsämter beim Nachverfolgen das so lange hinauszögert, bis der Impfstoff kommt", sagt Kipping.

Sie hat zuletzt mehrfach vor der "Lockerungslobby" gewarnt, namentlich nannte Kipping den FDP-Chef Christian Lindner sowie Armin Laschet, den CDU-Vize und Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen. In den Spitzengremien ihrer eigenen Partei wirkte sie auf eine einheitliche Linie hin, die man als sozialen Lockerungs-Skeptizismus bezeichnen könnte. Auch ihr Co-Vorsitzender Bernd Riexinger sowie der Fraktionschef Dietmar Bartsch plädieren für einen behutsamen Öffnungskurs - vor allem mit klarer Priorität für die Pflegekräfte, die Geringverdiener und die Alleinerziehenden.

Lieber die Sache knallhart durchziehen, findet Kipping, als einen Zick-Zack-Kurs zu fahren

Kippings ganz persönliche Position hebt sich allerdings vom Parteikonsens ab. Aus ihrer Sicht muss sich das Land eine konsequente "Stop-the-virus-Politik" leisten. Sie plädiert dafür, mit der kompletten Öffnung von Schulen, Kitas und Geschäften im Zweifelsfall noch eine Weile zu warten und nicht systemrelevante Unternehmen für ein paar Wochen stillzulegen. Wohl wissend, dass solche Forderungen gerade ein bisschen realitätsfremd wirken, bleibt sie bei ihrer Argumentation: lieber die Sache jetzt einmal knallhart durchziehen, als sich im Zickzackkurs durch die Pandemie zu winden.

Kipping nennt ihren Vorschlag den "einzigen ehrlichen Ausweg aus der Krise". Damit könnten nicht nur Menschenleben gerettet werden, sondern auch Unternehmen, glaubt sie. Vom Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung hat sie die These übernommen, dass die langfristigen Kosten einer zu frühen Lockerung viel höher ausfallen würden als bei einem behutsamen Vorgehen.

Man darf wohl unterstellen, dass Katja Kipping sich hier von ihren Überzeugungen leitet lässt. Sie hat schon Handschläge verweigert, als Corona für viele noch ein Bier war. Im März trug sie als eine der ersten Abgeordneten im Bundestag einen Mundschutz. Im April erweiterte sie ihr Sicherheitskonzept, indem sie um eine hochwertige Maske auch noch einen Schal band. Sie sagt, sie sei da vielleicht etwas streng mit sich, aber wenn die Politik den Menschen im Alltag das Tragen der Masken zumute, "dann sollte man auch selber in geschlossenen Räumen mit gutem Beispiel vorangehen".

Bei den Linken erhebt bislang niemand offen den Vorwurf, dass die Parteivorsitzende Panik verbreite. Aber von einer "berechtigten Gegenposition", die schwer umsetzbar sei, ist die Rede, auch von einem "zulässigen Beitrag", der nicht die Meinung der Fraktion abbilde. Die taz verglich Kipping mit der tragischen Mahnerin Kassandra, deren Vorhersagen nicht einmal die eigenen Genossen Glauben schenkten.

Ausgerechnet ein Linker, Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow, setzt sich nun gewissermaßen an die Spitze der Lockerungslobby, indem er ankündigt, vom 6. Juni an auf landesweit gültige Corona-Schutzvorschriften ganz zu verzichten. Auch Kippings langjährige interne Gegenspielerin Sahra Wagenknecht fühlt sich nicht an die Linie der Parteiführung gebunden. Wagenknecht sagte der SZ, sie halte es zwar für falsch, die von der Bundesregierung verhängten Einschränkungen grundsätzlich zu kritisieren, die grausamen Bilder aus Italien und Spanien seien schließlich keine Fakes gewesen. Angesichts der gegenwärtigen Infektionszahlen sei es den Leuten aber auch nicht zu vermitteln, dass weiterhin alles zubleiben soll: "Da bin ich anderer Meinung als Katja Kipping."

Und dann ist da noch der Fall Andrej Hunko. Der stellvertretende Vorsitzende der Bundestagsfraktion redete in Aachen auf einer Corona-Demo, die ein regional bekannter Verschwörungstheoretiker organisiert haben soll. Hunkos Beitrag war relativ ausgewogen, aber das Signal der Rede wird selbst von Parteifreunden, die ihm nahestehen, als "fatal" bezeichnet. Zumal es vom Fraktionsvorstand eine "klare Ansage" gab, nicht auf Hygienedemos zu gehen. Hunko war für die SZ auf Anfrage nicht zu sprechen. Während intern darüber nachgedacht wurde, welche Konsequenzen sein Auftritt habe müsse, verkündete Hunko, dass er vom Gesundheitsausschuss des Europarats mit einer neuen Aufgabe betraut worden sei: Corona-Berichterstatter.

In der Partei gebe es im Umgang mit der Krise unterschiedliche "Nuancen", heißt es. Aber von einer Parteichefin, die vor siebenstelligen Todeszahlen warnt, über einen Ministerpräsidenten, der alle Maßnahmen aufheben will, bis zum Corona-Experten, der auf Corona-Protestdemos geht, sind es schon erstaunlich große Nuancen.

© SZ vom 25.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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