Süddeutsche Zeitung

Linguistik:Von der Wirkung des Gifts

Matthias Heine untersucht den Wortschatz des NS-Staats und analysiert, wo er heute immer noch benutzt wird.

Von Robert Probst

"Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da." Das schrieb der Romanist Victor Klemperer 1947 in seiner klugen Abhandlung über die Sprache des Dritten Reiches ("LTI. Notizbuch eines Philologen"). Klemperer hatte diese Sprache zwölf Jahre lang erleben und erleiden müssen. Seine Analyse aber scheint heute ebenso vergessen zu sein wie das "Wörterbuch des Unmenschen", in dem Wilhelm E. Süskind, Gerhard Storz und Dolf Sternberger in den 1950er-Jahren das Fortwirken von Nazi-Sprache untersuchten. Heutzutage liest man nicht selten in der Zeitung - auch in der SZ - von "Sonderbehandlung" und "Parteigenossen". Gemeint sind dabei aber nicht Völkermord und Mitglieder der NSDAP, sondern "Vorzugsbehandlung" oder SPD-Mitglieder. Das ist peinlich, historisch unsensibel - und was noch schlimmer ist, oft dem Nichtwissen geschuldet.

Darum ist es gut und hilfreich, dass der Journalist Matthias Heine nun ein Kompendium über "Verbrannte Wörter. Wo wir noch reden wie die Nazis - und wo nicht" neu zusammengetragen hat. Mehr als 80 Begriffe werden in dem schmalen Band auf Herkunft, Nutzung oder Umdeutung durch die NS-Diktatur hin abgeklopft. Wie schon Klemperer wusste, haben die Nazis wahrscheinlich kein Wort selbst erschaffen. Aber sie machten sich die Sprache untertan, sie deuteten eigentlich negativ besetze Worte ("fanatisch") positiv um, sie militarisierten die Sprache ("Vergeltungswaffen"), liebten Abkürzungen und schwülstige oder pseudoreligiöse Methapern. Aber vor allem verschleierten sie mit Sprache, wie sie die Ausgrenzung großer Menschengruppen in ihrem Rassestaat vorbereiteten ("Berufsverbrecher", "asoziale Elemente", "lebensunwertes Leben") und wie sie schließlich ganz Europa mit Mord und Vernichtung überzogen - wobei in einigen Fällen ("Sonderbehandlung", "liquidieren") mit großer Akribie darauf geachtet wurde, dass derlei Wörter gerade nicht dem "Volk" bekannt wurden. Heine erzählt spannend, wie noch heute manche Wörter unter Naziverdacht stehen, obwohl sie gar nichts mit dem NS-Staat zu tun hatten, untersucht etwa den Begriff "bis zur Vergasung", und erklärt, warum der "Führer" selbst bald nicht mehr im "Dritten Reich" zu leben gedachte. Ein kleines Highlight: Wie die Nazis das Alphabet "judenrein" machten und wie wenig davon nach 1945 wieder rückgängig gemacht wurde.

Die kurze Einleitung und die oft nicht einmal eine Buchseite umfassende Deutung eines Wortes kann natürlich nicht allen linguistischen und historischen Bezügen nachspüren, sind aber aufgrund der Datenbankrecherchen erstaunlich präzise. Nicht nur für junge Leute und Journalisten zu empfehlen.

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Quelle:
SZ vom 05.08.2019
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