Wolfgang Kubicki guckt wie erwischt. Der neue Vize der FDP, am Samstag mit fast 90 Prozent gewählt, gilt als so unerschrockener wie galanter Schwerenöter. Zumindest kokettiert er gerne damit.
Am Pult steht Christian Lindner, der neue FDP-Parteichef. Er hat bereits einen Großteil seiner fast 70-minütigen Rede hinter sich gebracht. Viel Applaus hat es gegeben. Jetzt spricht er über die Datenskandale, die NSA-Affäre und die Vorratsdatenspeicherung, die die große Koalition umsetzen wolle.
In dem Zusammenhang erlaubt er sich einen kleinen Scherz auf Kubickis Kosten. Keiner wisse, ob diese gespeicherten Verbindungsdaten nicht in falsche Hände geraten. Wenn die öffentlich werden, dann "kann die Ehefrau von Wolfgang Kubicki sehen, mit wem er wann und wo telefoniert hat".
Ein Raunen geht durch die Halle. Alle dürften jetzt das Bild vor Augen haben, wie Kubicki Verbotenes in ein Telefon hineinsäuselt. Kubicki sitzt besonders aufrecht auf seinem Stuhl auf der Bühne. Lindner lässt ihn zappeln.
Dann löst er auf. "Also in seinem Fall mache ich mir keine Sorgen", sagt er. "Aber es hat Phasen im Leben von Horst Seehofer gegeben, da wäre ihm das nicht recht gewesen". Aus einer dieser Phasen stammt ein uneheliches Kind.
Die Lacher hat Lindner jetzt auf seiner Seite. Hätte sein Vorgänger Philipp Rösler sich an so einem Witz versucht, eine Peinlichkeit wäre zumindest nicht ausgeschlossen gewesen.
Im Moment reicht es den Delegierten schon, einen Mann an ihrer Spitze zu wissen, von dem sie sich erhoffen dürfen, dass er sie stil- und trittsicher in das kommende Superwahljahr 2014 führt. Rösler und Spitzenkandidat Rainer Brüderle haben der Partei nicht nur die Mitgliedschaft im Bundestag, sondern auch einen Teil ihrer Würde und ihres Selbstverständnisses genommen.
Immer wieder taucht ein Wort auf: Mut
Lindner muss die Trümmer jetzt zusammenkehren für den Wiederaufbau. Er beginnt, indem er weit in die Geschichte der FDP zurückgeht. Die Erfindung der sozialen Marktwirtschaft, der Kampf für die Pressefreiheit in den jungen Jahren der Republik, die Wende 1982 von der SPD hin zu Helmut Kohls CDU. Um wegzukommen von einer "stagnierenden Wirtschaftspolitik". Immer wieder taucht ein Wort auf: Mut. Den hätten Liberale immer gebraucht und gezeigt. Und eben jetzt auch.
Vergangenheitsbewältigung war gestern. Vorangetrieben vor allem von den Delegierten. Ab diesem Sonntag, das macht Lindner klar, geht es um Zukunft.
Und einen neuen Ton in der FDP.
Statt den Eindruck zu erwecken, Hartz-IV-Empfängern die Butter auf dem Brot nicht zu gönnen, spricht Lindner vom aktivierenden Sozialstaat. Der Wohlfahrtstaat müsse wie ein umgekehrter Magnet wirken. Nicht anziehen soll er. Sondern die Menschen immer wieder in die Unabhängigkeit und Selbstbestimmung stoßen.
Lindner hält sich lange am Begriff der "kleinen Leute" auf, für die die große Koalition jetzt Politik machen wolle. Er erzählt eine Anekdote des früheren US-Präsidenten John F. Kennedy. Der sei mit seinem Tross in einem riesigen Hangar der NASA auf einen einsamen Mann gestoßen, der den Boden fegte. Kennedy habe den Mann gefragt, was er da mache. Der habe salutiert und geantwortet: "Einen Mann auf den Mond bringen."
Dieser Präsident, schließt Lindner, "hätte diesen Mann nie einen kleinen Leut genannt! Damit nimmt man den Menschen den Stolz auf ihre Arbeit und versagt ihnen den Respekt!" Die große Koalition mache ihre Bürger so zu "betreuungsbedürftigen Mündeln." Viele Delegierte johlen, fast alle applaudieren an dieser Stelle.
Lindner will ein zugewandtes Menschenbild transportieren. "Fragt man einen Liberalen, um was es ihm geht, so wird seine Antwort sein: um Dich. Um Dein Recht im Hier und Jetzt glücklich zu sein." Dieses Menschen- und Gesellschaftsbild "ist das optimistischste und menschenfreundlichste Bild, das in Deutschland zur Wahl steht".
Mit Lindner wird aus der Partei der Ich-Linge also eine Partei der Dich-Linge. Auch wenn sich in der Partei außer dem "D" vor dem "Ich" inhaltlich zunächst nicht viel ändert. Es geht einzig um neue Akzente.
Etwa in der Wirtschaftspolitik. Die FDP sei nicht die Partei der Wirtschaftsbonzen und der Großbanken. Die FDP, sagt Lindner, werde der "Anarchie der Raffer die Regeln einer liberalen Wirtschaftsordnung entgegensetzen". Die FDP sei eine Partei für "Menschen im Markt".
Jeder Mensch sei systemrelevant, hatte Lindner schon am Vortag gesagt. Jetzt sagt er: "Unser Marktvertrauen ist keine Marktgläubigkeit. In der liberalen Wirtschaftsordnung darf niemand too big to fail werden", also zu groß, um pleitegehen zu dürfen. An der Grundausrichtung der Partei, lieber mehr Markt und weniger Staat, ändert das allerdings nichts.
"Nationalökonomischen Bauernfängertruppe"
Die Deutungshoheit in der FDP über die Europapolitik hat Lindner dagegen klar erobert. Frank Schäffler, der Euro-Rebell, scheiterte am Vortag deutlich mit seinem Versuch, sich gegen den Willen Lindners in das FDP-Präsidium wählen zu lassen. Jetzt macht Lindner klar: Die FDP bleibt Pro-Europa-Partei. Die AfD, die sich die FDP im kommenden Europa-Wahlkampf "insbesondere vorknöpfen" müsse, habe keine politischen Konzepte. Er wiederholt noch einmal sein Wort von der "nationalökonomischen Bauernfängertruppe". Die Euro-Kritiker in der FDP werden es jetzt schwer haben, sich noch Gehör zu verschaffen.
Am Ende seiner Rede macht Lindner Schluss mit den politischen Lagern. Die FDP sei heute "so eigenständig, so unabhängig wie niemals in ihrer Geschichte zuvor. Das alte Lagerdenken, es ist seit der letzten Bundestagswahl Geschichte!" Die FDP definiere sich nicht über die Nähe oder Ferne zu irgendeiner anderen Partei. "Wir haben für Kohl Wahlkampf gemacht und es war falsch. Wir haben jetzt Wahlkampf für Merkel gemacht und es war falsch", ruft er den Beifall klatschenden Delegierten zu. Die FDP brauche "keine Leihstimmen! Wir brauchen Überzeugungstäter für unsere liberale Politik!"
Die Delegierten hat Lindner mit dieser Rede gepackt. Jetzt muss er nur noch liefern. Das war in der Vergangenheit die größte Schwierigkeit liberaler Parteivorsitzender.