Süddeutsche Zeitung

Libysche Rebellenhochburg Misrata:Stadt der Helden, Stadt der Qual

Blutunterlaufene Augen und wulstige Narben: Misrata war einst die stolze Hochburg der libyschen Rebellen, heute quälen diese dort ihre Gegner. Der örtliche Gefängnisdirektor hofft, dass der Protest der Hilfsorganisationen etwas bewirkt, der Chef des Militärsicherheitsdienstes leugnet Folter.

Sonja Zekri, Misrata

Sie können einen falschen Beruf angeben, ihre Herkunft verschleiern oder über ihre Haltung zu Gaddafi täuschen. Sie können vertuschen, was sie im Krieg getan haben, was sie ins Gefängnis gebracht hat. Aber können ihre Körper lügen? Die roten Striemen, die wulstigen Narben, verstreut über Brust, Beine, Rücken? Das blutunterlaufene Auge? Der angeschwollene Fuß mit einem vernarbten Loch in der Mitte wie von einem Bohrer, der abgerissene Fingernagel?

Die Insassen des Militärgefängnisses von Misrata quetschen sich zu Hunderten in eine Betonhalle unter Wäscheleinen mit Socken, zwischen verhängten Etagenbetten, die eine Illusion von Privatheit erzeugen. 1052 Gefangene, eine Angst: das Verhör. Denn das heißt Peitschen, Zigaretten und Messer, Metallruten, Stromkabel, Elektroschocks.

"Wir wurden geschlagen, bis wir Geständnisse unterschrieben", sagt einer. "Manchmal wird einer abgeholt, später verteilen sie seine Sachen. Dann wissen wir, er ist tot", sagt ein anderer. "Wir können nicht reden, sonst sterben wir", zetert ein Alter. Ein Gefängniswärter bittet, die notierten Namen nicht zu veröffentlichen, sonst drohe Schlimmstes.

115 Fälle von Misshandlung

Dass sich die Achtung der Menschenrechte im neuen Libyen noch nicht durchgesetzt hat, ist nach 42 Jahren Gewaltherrschaft vielleicht wenig erstaunlich. Aber als Ende Januar die Organisation Ärzte ohne Grenzen erklärte, sie stelle ihre Arbeit in den Gefängnissen von Misrata ein, weil die Insassen systematisch gefoltert würden, war die Welt über dieses Ausmaß schockiert: 115 Fälle von Misshandlung haben die Ärzte ohne Grenzen seit August vergangenen Jahres beobachtet, sagt ihre Sprecherin in Misrata, Claudia Evers.

Im Januar wollten die Mediziner sechs offensichtlich misshandelte Häftlinge im Gefängnishospital behandeln, das sie eingerichtet hatten, drei in eine Klinik überweisen. "Aber man sagte uns, die Gefangenen müssten zurück zum Verhörzentrum", so Evers. Die Ärzte sollten die Gefangenen zusammenflicken für neue Quälereien. Die Organisation forderte die Behörden auf, die Folter einzustellen. Trotzdem entdeckte sie neue Misshandlungen - und stieg aus.

Viele Libyer betrachten Misrata mit Misstrauen

Ausgerechnet Misrata. Die Heldenstadt, die monatelang dem Ansturm der Gaddafi-Truppen getrotzt hatte. Damals waren Misratas Rebellen von der Welt abgeschnitten, damals hatten sie ganz allein den Ring der Belagerung gesprengt, waren nach Tripolis gedonnert und hatten geholfen, die libysche Hauptstadt zu befreien.

Wer heute nach Misrata will, fährt durch ein riesiges Tor aus Frachtcontainern, flankiert von einem Panzer und einem Truppentransporter, dahinter wehen auf silbernen Masten die Fahnen der Welt. Es ist, als reise man in ein anderes Land: Misrata gegen den Rest. Die Milizen der Stadt konkurrieren heute rücksichtslos um die Macht in Tripolis. Viele Libyer betrachten Misrata mit Misstrauen. Und nun ist auch noch der Opferstatus in Gefahr.

Scheich Fathi Abdel Salam Darass ist der Gefängnisdirektor und macht gerne Witze darüber, dass er aussieht wie ein Wiedergänger Osama bin Ladens - mit dem schmalen Gesicht und einem Bart wie Putzwolle. Vor seinem Fenster gruppieren sich die Gefangenen unter einem Wellblechdach zum Gebet. Kaum einer ist offiziell angeklagt, die wenigsten haben einen Anwalt gesehen. Es sei schwierig zu entscheiden, wer vor ein ziviles und wer vor ein Militärgericht gehöre, heißt es. Viele bleiben freiwillig: Auf den Straßen von Misrata fürchten sie Lynchmobs.

Auf dem Tisch von Scheich Fathi liegt ein Brief von Ärzte ohne Grenzen, mit herzlichem Dank für die "wertvolle Hilfe". Kein Insasse werde im Gefängnis gequält, sagen die Gefangenen und die Ärzte ohne Grenzen - die Verhörzentren liegen vielmehr außerhalb des Gefängnisses. Scheich Fathi ist sogar froh, dass sich die Ärzte ohne Grenzen zurückgezogen haben. So habe die ganze Welt gehört, dass hier Menschen geschlagen würden. "Nun wollen sie wissen, was hier geschieht."

Zwar sei die Arbeit ohne die Hilfsorganisation nicht leichter geworden: In der Krankenstation wechseln nun Freiwillige die Verbände, von Ärzte ohne Grenzen angelernt. Schwerkranke lässt Scheich Fathi nach Tripolis bringen. Dennoch ist er glücklich. Endlich werde sich etwas bewegen, hofft er.

Dabei ist er mit dem Hauptverdächtigen sogar befreundet. Ibrahim Beit al-Mal ist Chef des Nationalen Militärsicherheitsdienstes von Misrata, einer jener undurchsichtigen neuen Strukturen, die Staatlichkeit suggerieren, aber weitgehend eigenständig arbeiten. In Misrata leitet er eines der berüchtigten Verhörzentren. Scheich Fathi und Beit al-Mal haben für die Rebellen gekämpft, und durch die Blume hat der Gefängnisdirektor seinem Freund zu verstehen gegeben, was er von der Schinderei hält: "Heute sind diese Leute Gefangene, aber morgen werden sie frei sein." Und könnten Rache nehmen. "Er hat mir geantwortet: Ich schlage nicht", sagt Scheich Fathi: "Na ja, er schlägt ja auch nicht selbst."

"Er kam dünn zu uns, hier hat er sich dick gefressen"

Der meistgefürchtete Mann in Misrata empfängt hinter hohen Mauern in der fast zerstörten Tripolis-Straße, die sich wie ein schwarzer Keil in die Mitte der Stadt bohrt, und nennt den Bericht der Ärzte ohne Grenzen eine Lüge. Folter sei verboten, in seinen Gefängnissen werde nicht misshandelt, im Gegenteil: "Einer der Männer in meinem Gefängnis hat 150 Menschen in wenigen Minuten umgebracht, er kam dünn zu uns, hier hat er sich dick gefressen", sagt er.

Jüngst erst habe er selbst Ärzte in die Gefängnisse geschickt, ein Zucker- und ein Blutdruckmessgerät geliefert, Betten und Medikamente. Zudem habe er einem Gefängnis einer Miliz einen Brief geschrieben, um es seinem Befehl zu unterstellen. Beit al-Mal ist überzeugt, Ärzte ohne Grenzen würde, nein, müsste einen neuen Bericht schreiben und sich öffentlich entschuldigen, dann könnten die Helfer in die Gefängnisse zurückkehren.

In einem Schreiben an die Organisation hatte Beit al-Mal in der Tat die Entsendung eigener Ärzte und die Verteilung von Ausrüstung an die Gefängnisse angekündigt. Nur ist bei Scheich Fathi bislang nichts angekommen, keine Ärzte, keine Apparate. Immerhin, so der Gefängnisdirektor, seien die Verhöre weniger geworden: Vier bis fünf Leute pro Woche würden abgeholt; falls sie geschlagen würden, sehe man es nicht, und ein bisschen Schlagen sei ja nicht so schlimm. Für die Männer im Gefängnis ist dies nur ein relativer Fortschritt: "Ich wurde vor einer Woche abgeholt", stößt ein Bärtiger hervor, der kaum laufen kann. Er sagt: "Wir sind keine Männer mehr." Er wurde vergewaltigt.

Auch Amnesty International kritisierte unlängst die Folter von Gefangenen in offiziellen Gefängnissen und in den Kerkern privater Milizen in Tripolis, Gharjan und Misrata. Inzwischen hat das libysche Justizministerium reagiert und in einer feierlichen Zeremonie zwei Gefängnisse lokaler Milizen in Misrata und Ain Sara übernommen.

Opfer und Täter sind im neuen Libyen keine Rollen für die Ewigkeit. Hinter Ibrahim Beit al-Mal hängt das Bild seines Sohnes an der Wand. Er starb im April in Misrata. Er war 19 Jahre alt.

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SZ vom 14.02.2012/fran
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