Libyen:Noch ist es eine Nervenschlacht

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Milizen, die der Regierung in Tipolis nahestehen, haben die Tore der Stadt Sirte erreicht. (Foto: Ayman Sahely/Reuters)

Libyen steht vor neuen Auseinandersetzungen. Ausländische Mächte schicken Männer und Material - beunruhigende Szenarien wie Konfrontationen zwischen Nato-Staaten sind möglich.

Von Tomas Avenarius, Istanbul, und Paul-Anton Krüger

Das Recht auf eine Militärintervention in Libyen hat Ägyptens Präsident Abdelfattah al-Sisi sich schon vor Wochen ausbedungen. Um die Legitimität einer solchen Operation zu untermauern, ließ der Ex-General jüngst Stammesvertreter aus dem Osten Libyens nach Kairo einfliegen, die dort um Beistand baten, die "türkischen Kolonisatoren" zu vertreiben. Montagabend beseitigte das Parlament in Kairo die letzte formale Hürde für einen Einmarsch der Armee im Nachbarland. Einstimmig genehmigten die Abgeordneten, die "Streitkräfte in einen Kampfeinsatz außerhalb der Grenzen Ägyptens" zu schicken, um die Sicherheit Ägyptens an der strategischen Front im Westen gegen "kriminelle Milizen und ausländische Terroristen" zu verteidigen.

Gemeint sind mit den Anwürfen die Milizen der international anerkannten Regierung der Nationalen Übereinkunft (GNA) in Tripolis unter Premier Fayez al-Serraj, die der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan mit einer offenen Intervention unterstützt. Mit Hilfe moderner Waffen der türkischen Armee und von Ankara rekrutierten Söldnern hatten die GNA-treuen Truppen eine Offensive auf Tripolis zurückgeschlagen. Der General und Kriegsherr Khalifa Haftar, der über Ostlibyen herrscht, hatte seit April 2019 versucht, die Hauptstadt einzunehmen und sich zum Diktator aufzuschwingen - vergebens, obwohl ihn Ägypten, die Vereinigten Arabischen Emirate, Jordanien sowie russische Söldnern militärisch unterstützen und Frankreich zumindest politisch.

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Sechs Wochen war die Lage an den Fronten des Bürgerkriegs danach mehr oder weniger ruhig. Nun aber zeichnet sich eine mögliche nächste Runde schwerer Kämpfe ab. Milizen der Übergangsregierung marschieren sowohl auf die strategisch bedeutsame Hafenstadt Sirte am Mittelmeer als auch auf den Luftwaffenstützpunkt al-Jufrah im Landesinneren. Mindestens 200 Militärfahrzeuge und schwere Waffen seien unterwegs, berichten türkische Medien. Die Türkei stellt neben Drohnen und Söldnern nun offenbar auch moderne Raketenwerfer und Geschütze für die Operation "Weg zum Sieg" bereit. Außerdem schafft Ankara weiter Söldner ins Land.

Türkei hat eine Reihe von Verträgen mit Tripolis geschlossen

Das US-Verteidigungsministerium hatte kürzlich erklärt, die Türkei habe allein in den ersten drei Monaten des Jahres 2020 bis zu 3800 Mann nach Libyen gebracht. Sie entstammen überwiegend islamistischen Milizen aus Syrien. Nach Einschätzung des Pentagon gibt es aber keine Verbindungen zum Terrornetzwerk al-Qaida oder zum Islamischen Staat. Die Kämpfer seien "sehr wahrscheinlich" weniger ideologisch oder politisch motiviert, sondern von den "großzügigen" finanziellen Anreizen. Al-Arabiya, ein von den Emiraten kontrollierter Sender, warf der Türkei vor, tunesische Dschihadisten aus Syrien nach Libyen gebracht zu haben und in einer Reihe anderer Länder Kämpfer zu rekrutieren.

Offenkundig ist, dass die Türkei sich den klaren Sieg der GNA zum Ziel setzt. Sirte und Jufra müssten an Tripolis übergeben werden, forderte Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu, eine Waffenruhe sei sonst nicht im Sinne der Übergangsregierung, deren Unterstützer in Teilen wie Erdoğan den islamistischen Muslimbrüdern nahestehen. Ankara und Tripolis haben eine Reihe von Verträgen über die politische, wirtschaftliche und militärische Zusammenarbeit geschlossen, es gibt sogar ein Truppenstationierungsabkommen. Damit will sich die Türkei weitreichende Mitsprache im Bürgerkrieg wie bei der Rohstoffpolitik sichern und auch den Zugriff auf künftige Militärstützpunkte.

Sirte ist wichtig für die Kontrolle des sogenannten Öl-Halbmonds entlang der Mittelmeerküste. Dort liegen zwei Drittel der Ölvorkommen, die größten Afrikas, sowie wichtige Verladeterminals. Diese blockiert Haftar seit Januar - und damit die wichtigste Einnahmequelle der GNA. Er verlangt einen "klaren Mechanismus" für die Teilung der Einnahmen zwischen dem von ihm und seiner Libyschen Nationalarmee sowie dem Parlament in Tobruk kontrollierten Ostlibyen und der GNA im Westen.

Für die Regierung in Tripolis ist ein solcher Deal kaum akzeptabel. Die Türkei droht, die GNA werde ihre Entschlossenheit unter Beweis stellen, wenn Haftar nicht abziehe. "Die Operation wird vorbereitet", sagte Çavuşoğlu, um allerdings zu ergänzen: "Wir versuchen es aber auch am Verhandlungstisch." Etliche Experten und westliche Diplomaten werten den Aufmarsch um Sirte als Nervenprobe - die freilich in einen offenen Krieg münden könne. Sowohl die Türkei als auch Ägypten betonen, sie wollten dies vermeiden.

Als möglich gilt, dass Erdoğan versucht, mit Russlands Präsidenten Wladimir Putin einen Deal zu finden, ähnlich wie in Syrien. In Sirte sind Hunderte Söldner der russischen Militärfirma Gruppe Wagner stationiert, die trotz offizieller Dementis eng mit dem Kreml verbunden ist. In Jufrah stehen zudem von Russland bereitgestellte Kampfjets. Ankara würde es also auch mit Moskau aufnehmen, nicht nur mit Ägypten, das an der westlichen Grenze Truppen zusammengezogen hat und in kurzer Zeit mit Panzerverbänden nach Sirte vorrücken könnte. Offen ist auch, wie sich Frankreich verhalten würde, dessen Flugzeugträger Charles de Gaulle vor Libyen kreuzt.

Außenminister Maas fordert Sanktionen - wie sie durchgesetzt werden sollen, sagt er nicht

Präsident Emmanuel Macron telefonierte während des EU-Gipfels mit "seinem Freund" Donald Trump, um die USA zu einem stärkeren Engagement in Libyen zu bewegen. Washington will eine militärische Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Nato-Staaten verhindern und ebenso zwischen seinen Verbündeten Ägypten und Türkei. Bislang hat sich Washington aber dem Werben aus Paris entzogen, die Türkei in Libyen zu isolieren.

Mit Sorge sieht das Pentagon Russlands Präsenz, die Macron lange ebenso wenig kritisiert hat, wie die Militärhilfe Ägyptens, der Emirate und Jordaniens für Haftar - die ebenso gegen das UN-Waffenembargo verstößt wie die Intervention der Türkei. Allerdings hatte Trump mit Haftar telefoniert, was dieser neben der Unterstützung der Golfstaaten als Freibrief für seinen Angriff auf Tripolis interpretierte. In Washington gilt er inzwischen als unberechenbar. Libyen sei aber "zu allererst ein europäisches Problem", wie ein hoher US-Diplomat der Washington Post sagte.

Bundesaußenminister Heiko Maas sagte, man wisse, dass sowohl Material als auch Söldner "vielfach über gecharterte Schiffe oder Flugzeuge nach Libyen gebracht werden". Unternehmen, Personen und auch Entitäten, die an Verstößen gegen das UN-Embargo beteiligt seien, müssten mit Sanktionen belegt werden. In einem zweiten Schritt seien Sanktionen gegen Staaten denkbar. Wie aber solche Strafen angesichts der Verwicklung von EU-Staaten und UN-Vetomächten in Brüssel oder im Sicherheitsrat durchgesetzt werden sollen, wenn sie sich nicht allein gegen die Türkei richten, sagte er nicht.

© SZ vom 22.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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