Libyen nach Gaddafi:Neustart mit Scharia

"Erhebt eure Häupter. Ihr seid frei, Libyer": In Bengasi, wo der Aufstand gegen Gaddafi seinen Ausgang genommen hat, feiern die Menschen ihre neugewonnene Freiheit. Und der Übergangsrat verkündet, dass er die Zukunft mit Hilfe der Scharia gestalten will. Doch wer darf sich dann noch erhobenen Hauptes bewegen?

Kathrin Haimerl

Es endet, wo alles begonnen hat: Bengasi ist in ein Meer aus rot-schwarz-grünen Flaggen getaucht, den Farben der alten libyschen Monarchie - und zugleich des neuen Libyens. In der Stadt im Osten des Landes hat vor acht Monaten die Revolution ihren Ausgang genommen. An diesem Sonntag begrüßt eine jubelnde Menschenmenge die heimkehrenden Kämpfer des Nationalen Übergangsrats.

Fernsehbilder der Feierlichkeiten zeigen tanzende Frauen im Publikum, sie begrüßen die Kämpfer euphorisch. Einer küsst einen Koran, den er aus der Menge überreicht bekam. "Allahu-Akbar"-Rufe sind zu hören. "Gott ist groß." Bei Muslimen ein beliebter Ruf - und auch das Markenzeichen der Rebellen im Kampf gegen die Streitkräfte des langjährigen libyschen Machthabers Muammar al-Gaddafi.

Schließlich soll im neuen Libyen die Religion eine tragende Rolle spielen.

"Hiermit erklären wir der ganzen Welt, dass wir unser geliebtes Land mit seinen Städten, Dörfern, Hügeln, Bergen, Wüsten und dem Himmel befreit haben", sagt ein Vertreter des Nationalen Übergangsrats (NTC) am Nachmittag im Zentrum Bengasis. "Erhebt eure Häupter. Ihr seid frei, Libyer", ruft der Vizechef des Übergangsrats, Abdulhafis Ghoga, der begeisterten Menge zu.

Drei Tage, nachdem Gaddafi aufgegriffen worden war, verkündete der Ratsvorsitzende Mustafa Abd al-Dschalil offiziell den Sieg über das Gaddafi-Regime. Der ehemalige Justizminsiter unter Gaddafi rief seine Landsleute zu Einheit, Versöhnung, Geduld und Toleranz auf - und versprach Rechtsstaatlichkeit und die Einhaltung von Menschenrechten. Zugleich kündigte der Ex-Staatsanwalt eine stärkere islamische Orientierung des neuen Libyens an. "Bei uns ist das islamische Recht die Grundlage der Rechtsordnung. Ein Gesetz, das dem islamischen Recht widerspricht, ist null und nichtig."

Dass dem islamischen Recht im neuen Libyen mehr Bedeutung zukommen sollte, klang bereits Mitte September an, als Dschalil auf dem Platz der Märtyrer im Zentrum von Tripolis die Pläne des Übergangsrats für die Zukunft des neuen Libyens vorstellte. Er versprach die Schaffung eines Rechts- und eines Sozialstaats, "in dem das islamische Recht Scharia die wichtigste Quelle der Gesetzgebung" sei.

Am Sonntag nun nannte Dschalil konkret zwei Punkte, in denen islamisches Recht eine Rolle spielen sollte: Er versprach die Gründung islamischer Banken, die keine Zinsen verlangen. Ein netter Zug.

Mehr Sorge bereitet dem Erlanger Juristen und Islamwissenschaftler Mathias Rohe Dschalils zweite Ankündigung: Demnach soll das libysche Eherecht, das bislang Polygamie nur zulässt, wenn die Erstfrau zustimmt, geändert werden. Künftig soll diese Zustimmung nicht mehr nötig sein. "Das ist ein klarer Rückschritt", sagt Rohe im Gespräch mit sueddeutsche.de.

Eine etwas verquere Begründung für diese Änderung lieferte Farage Sayeh, Entwicklungsminister im Übergangskabinett, das am Sonntag im Zuge der Feierlichkeiten zurücktrat. Die neue Regelung sei schließlich auch im Sinne der vielen jungen Frauen, die ihre Männer in den Kämpfen verloren hätten und nun auf der Suche nach einem neuen Partner seien, sagte er der Washington Post zufolge.

Bei einigen westlichen Diplomaten kam das gar nicht gut an, sie vermuteten eine Hinwendung zum radikalen Islam. Am Tag danach versuchte die libysche Führung denn auch entsprechende Bedenken auszuräumen: Libyer seien moderate Muslime, beteuerte Dschalil.

Für Islam-Experten Rohe sind die Änderung im Eherecht ein Zugeständnis an die islamistischen Kräfte in Libyen, die im Zuge des Kampfes gegen Gaddafi erstarkten. Am deutlichsten zeigte sich dies beim Einmarsch der einstigen Rebellen in die Hauptstadt Tripolis und der Ernennung von Abdel Hakim Belhadsch, einem ehemaligen Al-Qaida-Mann, zum Militärkommandeur.

"Wir sind alle Brüder geworden"

Bei seiner Ansprache in Bengasi gab sich nun auch Dschalil betont religiös: Am Ende kniete er neben dem Rednerpult nieder, um ein kurzes Dankesgebet zu sprechen. Er forderte die Libyer dazu auf, ihren Jubel nicht mit Freudenschüssen Ausdruck zu verleihen - sondern stattdessen "Allahu Akbar" zu rufen.

Gott muss wohl auch helfen, denn Libyens neue Spitze steht vor gewaltigen Aufgaben: Sie muss die Milizen dazu bringen, ihre Waffen niederzulegen und die unterschiedlichen politischen Lager, Stämme und Regionen, die bislang nur der Kampf gegen Gaddafi geeint hat, in ein neues System integrieren. Dschalil warnte in seiner Rede vor einer Spaltung des Landes und verwies auf das Einigende: "Wir sind alle Brüder geworden, was wir lange Zeit nicht waren."

Dass der Islam im künftigen Libyen eine größere Rolle spielt, könnte auch als Signal an die breite Mehrheit der libyschen Bevölkerung gewertet werden. Libyen ist mehrheitlich eine konservative, muslimische Gesellschaft, in der Alkohol verboten ist und viele Frauen Schleier tragen. Dschalil gilt im Nationalen Übergangsrat als Gegengewicht zu den Islamisten und als Vertreter eines eher säkular orientierten Lagers. Allerdings sei das Wort säkular in der muslimischen Welt negativ besetzt, sagt Rohe.

Wie Scharia und Rechtsstaat zusammenpassen

Der Wissenschaftler vermutet, dass dem libyschen Volk möglicherweise die Idee eines Rechtsstaats besser zu vermitteln sei, wenn man diesen aus den Werten der eigenen Kultur ableite. Der Charakter einer islamischen Ordnung stehe und falle mit der Auslegung. Warum die Scharia auch mit dem Rechtsstaat vereinbar sein kann, beschreibt die Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer ausführlich in einem Beitrag für die Wochenzeitung Die Zeit. Demnach lassen sich die Prinzipien des modernen Rechtsstaats wie bürgerliche Freiheiten, politische Mitspracherechte und Schutz vor staatlicher Willkür auch aus islamischem Recht ableiten.

Rohe zeigt sich "vorsichtig optimistisch", dass im neuen Libyen die Interpretation in diese Richtung gehe. Dschalils Ankündigung bezüglich des libyschen Eherechts hingegen stimmt den Wissenschaftler weniger zuversichtlich mit Blick auf das Familienrecht und die Gleichstellung von Mann und Frau.

Die Pläne in Libyen entfachen auch erneut eine Debatte über die Rolle des Islam in anderen Ländern des Arabischen Frühlings.In Tunesien, wo am Sonntag erstmals frei gewählt wurde, zeichnet sich ein Sieg gemäßigter Islamisten ab. Prognosen deuten daraufhin, dass sich die Ennahda-Partei den größten Anteil der Stimmen bei der ersten freien Abstimmung sichern konnte. Die Partei, die sich als islamistische Sammelbewegung versteht und auch radikalen Muslimen eine politische Heimat geben will, rechnet mit bis zu 50 Prozent der Stimmen.

Daraus nun Schlussfolgerungen zu ziehen, sei allerdings zu früh, sagt Islam-Experte Rohe, zumal der Ennahda-Anführer Rachid Ghannouchi bereits erklärt habe, dass er eng mit anderen Parteien zusammenarbeiten wolle. Rohe glaubt, dass radikale Islamisten in Tunesien auf massiven Widerstand stoßen würden, sollten sie ihre Vorstellungen bezüglich des Familien- und Erbrechts oder der Geschlechterverhältnisse durchsetzen wollen. Der Anfang von neuen Protesten?

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