Libyen nach Gaddafi:Der Diktator ist tot, es lebe das Volk!

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Die Libyer feiern den Tod des früheren Machthabers - und planen die Zeit nach Gaddafi: Die neue libysche Führung will einen schnellen Übergang zur Demokratie. Die Nato berät über das Ende des Militäreinsatzes. Noch immer gibt es Zweifel an den Todesumständen Gaddafis: Ein Fernsehsender zitiert einen Arzt in Misrata, wonach Gaddafi "aus nächster Nähe" erschossen worden sei. Ministerpräsident Dschibril will, dass die Leiche möglichst schnell verschwindet.

Nach dem blutigen Ende der Ära Gaddafi wendet sich Libyen einer demokratischen Zukunft zu. Nur wenige Stunden nach dem Tod des früheren Machthabers Muammar al-Gaddafi hat der Übergangsrat bereits mit der Bildung eines neuen Staatswesens begonnen. Schon in einem Monat soll die neue Übergangsregierung in Tripolis stehen.

Die einstigen Rebellen feierten landesweit ihren Erfolg, mit dem das monatelange Blutvergießen in Libyen zu Ende gehen dürfte. Nach zunächst unbestätigten Berichten wollte der Übergangsrat am Samstag Libyen für befreit erklären. Wer genau den ehemaligen Diktator am Donnerstag in seiner Heimatstadt Sirte tötete, konnte noch nicht geklärt werden, es gab widersprüchliche Berichte zu Gaddafis letzten Stunden.

Zuletzt erklärte Ministerpräsident Mahmud Dschibril, Gaddafi sei gefangen genommen und kurz darauf lebensgefährlich verletzt worden, als die Kämpfer, die ihn auf einem Pritschenwagen von Sirte nach Misrata bringen wollten, auf dem Weg unter Beschuss geraten seien. Er sei nicht von den Kämpfern zu Tode geprügelt worden, sondern erst nach seiner Ankunft im Krankenhaus von Misrata gestorben, weil er viel Blut verloren habe.

"Als er gefunden wurde, war er bei guter Gesundheit und hatte eine Waffe", sagte Dschibril. Er sei anschließend auf einen Pickup gebracht worden. Als das Fahrzeug losfuhr, sei jedoch eine Schießerei zwischen Gaddafi-Anhängern und Gegnern ausgebrochen. Dabei habe Gaddafi einen Kopfschuss erlitten.

Widersprüchliche Berichte

Ein Mediziner des Krankenhauses in der libyschen Stadt Misrata schürt nun neue Zweifel an der offiziellen Darstellung Dschibrils: Der Arzt, der Gaddafis Leiche untersucht haben soll, sagte dem Nachrichtensender Al-Arabija, dass Gaddafi durch "Schüsse aus nächster Nähe in Kopf und Bauch" gestorben sei. Dies könnte auf eine Hinrichtung nach der Gefangennahme hindeuten.

Dass Gaddafi nach seiner Festnahme noch am Leben gewesen sein könnte, darauf deuten auch Videoaufnahmen hin, die sowohl im Internet kursierten, als auch arabische Fernsehsender ausstrahlten. Darin ist zu sehen, wie Gaddafi nach seiner Festnahme von Kämpfern hin und her geschubst wird. Er ist verletzt, aber noch am Leben. Es sieht aus, als flehe er um Gnade.

Ein Kämpfer hält ihm eine Waffe an die Schläfe, unklar ist, ob er abdrückt. Spätere Aufnahmen zeigen, wie seine Leiche über den Bürgersteig gerollt wird. Bilder zeigen den blutüberströmten Leichnam Gaddafis, Experten folgern aus den Einschusslöchern, dass aus nächster Nähe auf den früheren Despoten geschossen worden sein muss. Die Aufnahmen und Bilder unterstützen nicht die offizielle Version des Übergangsrats, wonach Gaddafi in einem Schusswechsel starb.

Frankreichs Verteidigungsminister Gérard Longuet sagte, französische Kampfflugzeuge hätten am Morgen einen Konvoi von rund 80 Fahrzeugen "gestoppt", die Sirte zu verlassen suchten. Erst Gaddafi-Gegner hätten die Fahrzeuge zerstört und Gaddafi herausgeholt. Laut einem US-Vertreter feuerte auch eine US-Drohne eine Rakete auf den Konvoi.

Der Nachrichtensender Al-Dschasira zitierte einen Kämpfer des Übergangsrat, wonach Gaddafis Gefolgsleute zunächst das Feuer eröffnet hätten. Gaddafi soll ihnen allerdings befohlen haben, damit aufzuhören. "Mein Meister ist da, mein Meister ist da", soll einer der Gaddafi-Männer gerufen haben. "Muammar al-Gaddafi ist hier und er ist verletzt." Daraufhin hätten die Kämpfer Gaddafi aus dem Fahrzeug geholt. Zu diesem Zeitpunkt soll er bereits mit zwei Schüssen in die Beine sowie in den Rücken verletzt gewesen sein. Andere Kämpfer sollen nach Angaben von Al-Dschasira diese Darstellung bestätigt haben. Einer allerdings gab an, Gaddafi sei in letzter Minute von den eigenen Gefolgsleuten erschossen worden.

Die New York Times zitiert hingegen Kämpfer aus Misrata, die Gaddafi in einem Abwasserrohr aufgegriffen haben wollen. "Als er uns sah, fragte er: 'Was passiert hier?'" Die Kämpfer hätten die Straße von der Küste aus benutzt, um sich dem Angriff auf Sirte anzuschließen. Dort hätten sie Überreste eines Konvois gefunden, der durch einen Nato-Luftangriff zerstört worden sei. "Wir begannen, sie unter heftigen Beschuss zu nehmen", erzählten sie. "Wir hatten keine Ahnung, dass Gaddafi dort sei."

Am Vorabend war Gaddafis Leichnam in eine Moschee in Misrata gebracht worden. Dort soll er von Hunderten Menschen beäugt worden sein, berichtet das Blatt weiter. Die Kämpfer, die Gaddafi aufgegriffen haben wollen, reichten die "ultimativen Trophäen dieser Revolution" von Hand zu Hand weiter - darunter Gaddafis goldene Pistole, sein Satellitentelefon, seinen braunen Schal und einen schwarzen Stiefel.

Feiernde Libyer auf dem Martyr's Platz in Tripolis: Die Übergangsregierung plant den Neuanfang, am Samstag will sie offiziell den Beginn der Übergangsphase zu einem demokratischen Staat verkünden. (Foto: REUTERS)

Angesichts der widersprüchlichen Berichte um den Tod Gaddafis forderte die Menschenrechtsorganisation Amnesty International eine Untersuchung der Todesumstände. Die neue Regierung müsse mit der "Kultur des Missbrauchs" unter Gaddafi vollständig brechen und Menschenrechtsreformen durchsetzen, die das Land bitter nötig habe, hieß es.

Nachdem der Übergangsrat zunächst angekündigt hatte, Gaddafi rasch zu begraben, wird sich die Beerdigung nun noch um einige Tage verzögern. Ein Termin stehe noch nicht fest, sagte der Ölminister des Übergangsrats, Ali Tarhuni, am Freitag. Es sei beschlossen worden, den Leichnam noch für einige Tage aufzubahren, damit sich jeder davon überzeugen könne, dass Gaddafi tot sei, sagte Tarhuni der Nachrichtenagentur Reuters. Derzeit befinde sich die Leiche in Misrata. Eine Entscheidung darüber, wo Gaddafi beigesetzt werden solle, sei noch nicht gefallen.

Zuvor hatte bereits der Internationale Strafgerichtshof gebeten, Gaddafi vorerst nicht zu begraben, damit der Leichnam untersucht werden könne. Der Übergangsrat hatte sich nach Angaben von Dschibril jedoch anders entschieden. Gaddafi solle in Kürze an einem unbekannten Ort nach islamischem Ritus begraben, sagte Dschibril. Was mit seinem Körper geschehe, sei "ziemlich egal, Hauptsache, er verschwindet". Der Internationale Strafgerichtshof soll daraufhin der Beerdigung Gaddafis zugestimmt haben, sagte Dschibril dem Nachrichtensender CNN.

Offenkundig will der Übergangsrat verhindern, dass das Grab zu einem Wallfahrtsort für Gaddafi-Anhänger wird. Allerdings habe man Haar- und Gewebeproben von der Leiche genommen, um keine Zweifel an der Identität des Getöteten aufkommen zu lassen.

Tod der Gaddafi-Söhne bestätigt

Außer Gaddafi sollen bei dem Angriff auf Sirte auch dessen Geheimdienstchef Abdullah al-Senussi und Verteidigungsminister Abu Bakr Junis getötet worden sein. Am Abend wurde zudem der Tod der Gaddafi-Söhne Saif al-Islam und Mutassim vom staatlichen Fernsehen bestätigt. Beide sollen wie ihr Vater in Sirte getötet worden sein.

Die Libyer nehmen ihr Schicksal jetzt selbst in die Hand. Dschibril sagte nach Angaben des Senders Al-Dschasira, die neuen Machthaber wollten an diesem Samstag offiziell den Beginn der Übergangsphase auf dem Weg zu einem demokratischen Staat verkünden. Der Vorsitzende des Übergangsrates, Mustafa Abdul Dschalil, wolle dies in Sirte, Gaddafis Geburtsort, tun. Dann werde binnen 30 Tagen eine neue Übergangsregierung gebildet. Acht Monate später solle dann ein Nationalkongress einberufen werden, um die Weichen für einen kompletten Neuanfang zu stellen.

US-Präsident Barack Obama sprach von einem "historischen Tag in der Geschichte Libyens". "Sie haben ihre Revolution gewonnen", sagte er in Washington an die Adresse der Rebellen gerichtet. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sprach von einem Schlusspunkt unter dem Regime Gaddafi. "Damit geht ein blutiger Krieg zu Ende, den Gaddafi gegen sein eigenes Volk geführt hat", sagte Merkel in Berlin.

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