Süddeutsche Zeitung

Liberalismus nach der FDP-Schlappe:Geschichte wiederholt sich nicht? Diese schon!

Die FDP hat bei der Bundestagswahl ein Debakel erlebt, der Liberalismus steckt in einer tiefen Krise. Doch das ist nicht nur die Schuld von Rainer Brüderle oder Philipp Rösler. Was bei der Wahl passiert ist, hat eine Vorgeschichte.

Von Detlef Esslinger

Der ultimative Satz zur Katastrophe der FDP kommt weder von Brüderle noch von Niebel; selbst Kubicki wäre in dem Fall falsch geraten. Er kommt aus einer entfernten Zeit. Die Freie Demokratische Partei gab es damals noch lange nicht, Genschers Mutter war ein Mädchen von fünf Jahren. Friedrich Naumann sprach ihn aus, 1906: "Die Idee des Liberalismus muss erst wieder neu erarbeitet werden. Sie hat im Laufe der Zeit so viel an Klarheit, Schärfe und Magnetismus verloren, dass sie erst wieder wie neues Tageslicht vor der Bevölkerung aufsteigen muss."

Geschichte wiederholt sich nicht, diese Floskel hat schon oft Trost spenden sollen. Aber wer sich mit der Geschichte des Liberalismus in Deutschland im Allgemeinen und der FDP im Besonderen befasst, macht recht bald eine überraschende Entdeckung: Diese Geschichte wiederholt sich permanent, vor allem die prekären Abschnitte.

Die Anfänge des Liberalismus liegen etwas mehr als zwei Jahrhunderte zurück, es ist eine Weltanschauung, die sich zwar immer gehalten hat - und die Deutschland und viele andere Länder weitaus stärker und positiver geprägt hat, als es den meisten bewusst ist. Aber doch konnte sie sich ihres Daseins nie gewiss sein; aneders als der Konservatismus und der Sozialismus. In einer Welt, die sich ständig verändert, ist für die beiden letzteren immer Bedarf: sowohl für Bewahrer und Skeptiker als auch für jene, die denen Schutz anbieten, die von Veränderungen nicht profitieren. Liberale hingegen müssen sich nach jedem Umbruch neu erfinden. Und in jedem folgenden Umbruch auch. Immer ist Behauptungskampf.

Wirkungskraft des Liberalismus

Liberalismus meint im Grunde dies: so viel Freiheit wie möglich, so viele Vorschriften wie nötig. Der Staat, das ist nichts anderes als die Gesamtheit der Individuen. Die Bestimmung seiner Institutionen ist es, den Rahmen zu setzen, damit die Individuen sich entfalten können. Aber auf keinen Fall ist der Staat dazu da, irgendwelche Ziele vorzugeben und Individuen wie Instrumente zum Erreichen derselben zu behandeln.

Vater Staat? Darum geht es Liberalen gerade nicht. Was sie erringen wollen, sind: Rechtssicherheit, Privateigentum, Meinungsfreiheit, Marktwirtschaft. Die amerikanische Verfassung von 1776, die Erklärung der Menschenrechte während der Französischen Revolution im Jahr 1789, die Entscheidung für die soziale Marktwirtschaft Ende der 1940er-Jahre in der Bundesrepublik Deutschland - das sind alles Ereignisse, die der Wirkungskraft des Liberalismus zu verdanken sind.

"Er ist Bahnbrecher der Freiheit in einem sehr konkreten Sinne gewesen und zugleich Wegbereiter der modernen industriellen Gesellschaft", schrieb der Historiker Wolfgang J. Mommsen einmal. Womit man flugs bei den aktuellen Problemen der FDP wäre: Wenn Rainer Brüderle im Jahr 2013 in Deutschland immer noch flammende Reden für die Freiheit hält, der er Bahn brechen will, wenn er sich gar wörtlich einen Freiheitskämpfer nennt, wirkt das schon per se skurril. Sind wir jetzt in Syrien, oder was?

Morbus Brüderle

Das ist das eine Problem des Liberalismus: dass er sich so oft schwertut zu erklären, warum man ihn auch dort noch braucht, wo seine Ziele doch offensichtlich und längst erreicht sind. Morbus Brüderle könnte man dazu sagen, aber den gab es auch schon zu Friedrich Naumanns Zeiten. Der Mann, den die FDP zum Namensgeber ihrer Stiftung erwählte, konstatierte den Mangel an Klarheit, Schärfe und Magnetismus, nachdem im Kaiserreich die Herzensangelegenheiten der Liberalen durchgesetzt waren: einheitlicher Nationalstaat, Versammlungs- und Pressefreiheit, Gewerbeordnung.

Damit war natürlich nicht das Ende der Geschichte eingetreten, das nahm auch damals kaum jemand an. Jede Gesellschaft erlebt immer wieder Umbrüche - und das andere Problem des Liberalismus ist, dass er in Umbrüchen oft so starr ist. Im Jahr 1873 sah er sich das erste Mal mit einer Depression konfrontiert, er hatte keine Antwort darauf. Nach der Weltwirtschaftskrise der späten 1920er-Jahre hatte er den totalitären Kräften nichts entgegenzusetzen. Und in der Krise im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts zeigte er sich scheinbar herzlos.

Noch eine Feststellung von zeitloser Gültigkeit, diesmal von Max Weber, dem Soziologen und Mitbegründer der Deutschen Demokratischen Partei (DDP), dem Vorläufer der FDP in der Weimarer Republik: Es sei falsch, vom fortschreitenden Kapitalismus zu erwarten, dass er automatisch liberale Prinzipien fördere. Die Frage sei: "Wie sind unter seiner Herrschaft Demokratie oder gar Freiheit überhaupt auf die Dauer möglich?" In der Ära Westerwelle-Rösler-Brüderle hätte es so viel Anlass gegeben, der Frage nachzugehen. Die FDP nahm sie nicht einmal wahr.

Anfällig für Einflüsterungen

Liberale sind von Natur aus Individualisten; auf diesen Umstand gehen nicht nur ihre Ziele und Errungenschaften, sondern auch all ihre Krisen zurück. Wer auf sich selbst vertraut, der neigt nicht zum straffen Zusammenhalt. Wem dieser Zusammenhalt fehlt, der kann kaum auf eine feste Wählerschicht zurückgreifen; auch deshalb ist er auf die Ressourcen von Interessenverbänden angewiesen - und damit anfällig für Einflüsterungen. Der neigt außerdem zu Illoyalität und Spaltung. Die Geschichte des Liberalismus in Deutschland ist voll von all diesen Symptomen.

Labile Wählerschaft: Im Kaiserreich schrumpfte der Stimmanteil von gut 46 Prozent nach der Reichsgründung 1871 auf knapp 26 Prozent vor dem Ersten Weltkrieg. Im Jahr 2009 gab mehr als jeder zweite Hausarzt an, FDP zu wählen. 2013 waren es nur noch 17 Prozent.

Illoyalität: In keiner anderen Partei driften Auseinandersetzungen so oft ins Persönliche, ja Vulgäre wie in der FDP. Sie sind ja manchmal selber darüber entsetzt. "Für die Müllentsorgung ist das Umweltministerium zuständig, nicht das Auswärtige Amt", sagte der Liberale Kubicki über die abgesetzte Fraktionschefin Homburger, als sie zum Trost Staatsministerin bei Westerwelle werden sollte.

Spaltung: Es gab in Deutschland Nationalliberale, Sozialliberale, Linksliberale, Rechtsliberale, Ordoliberale, Neoliberale. In Weimar gründete sich die Deutsche Volkspartei (DVP) Gustav Stresemanns als Abspaltung von der DDP - und im Zuge der Weltwirtschaftskrise zerfiel die DDP in Radikaldemokratische Partei und Deutsche Staatspartei (DStP). Die DDP begann 1919 mit 18,5 Prozent, die DStP endete 1932 bei einem Prozent. 1969 liefen der FDP nach dem Wechsel in eine Koalition mit der SPD die Rechts- und Nationalliberalen davon, nach der Rückkehr zur Union 1982 wendeten sich die Linksliberalen ab. "Die Bindungen waren porös", schreibt der Politologe Franz Walter über Liberale und ihre Wählern in der Kaiserzeit. Der Satz gilt auch für die Zeiten seither.

Wer seiner selbst nie gewiss sein kann, der lebt immer am Rand der Verzweiflung. Noch einmal Walter: "Sie sehnten sich danach, von den Wählern auch um ihrer selbst willen gewählt, vielleicht sogar ein wenig geliebt zu werden." Nichts aber lag der Klientel ferner - weshalb Liberale ihr Heil so oft in immer denselben Manövern suchen. Weil der Mittelstand, trete er nun in Gestalt von Händlern, Bankiers oder Hausärzten auf, schon zu Bismarcks Zeiten eine launische Kundschaft mit Anspruchsdenken war, waren Liberale für einen zurückhaltenden Staat immer nur so lange, wie es diesem Mittelstand gut ging. Wenn nicht, müssen bitte Subventionen her. Die Parole "Freiheit" mutet oft nur wie eine Kulisse an, als sollte sie verschleiern, dass ein in sich schlüssiges Programm gar nicht so erwünscht ist.

Brachiale Rhetorik kombiniert mit Kleinmut im Handeln, das ist ein anderer liberaler Wiedergänger; ein Bruder der Verzweiflung, sozusagen, und beileibe keine Erfindung von Guido Westerwelle. In den Fünfzigerjahren gab es einen Partei- und Fraktionschef namens Thomas Dehler. Später wurde nach ihm die Parteizentrale benannt, damals aber warf der freidemokratische Bundespräsident Heuss dem Mann "rhetorische Besoffenheit" vor, und dass er aus der FDP eine Partei der Proleten mache. 1961 zog sie in den Bundestagswahlkampf mit dem Slogan: "Mit der CDU/CSU ohne Adenauer." Hernach kürte sie den 85-Jährigen erneut zum Kanzler.

So bekommt man das Image von Umfallern, so bleibt einem dann manchmal nichts anderes übrig, als zum wirklich allerletzten Mittel zu greifen. Auch heutige Wähler erinnern sich vielleicht, dass der Wahlkampf 2013 nicht der erste war, in dem sich die Partei auf eine Funktion reduzierte: "FDP wählen, damit Helmut Kohl Kanzler bleibt" - 1994 ging diese Taktik noch auf. Nie wieder, sagte Westerwelle damals, wolle er sich so kleinmachen. Aber wie lautete der Slogan vergangene Woche? "Wer Merkel haben will, wählt FDP." Da war sie bereits zu klein, um sich so noch retten zu können.

Verheerende Wirkung

Der Liberalismus steckt in einem Teufelskreis. Weil er so oft mit seiner eigenen Rettung beschäftigt ist, muss er sich so oft mit dem Eiligen statt mit dem Grundsätzlichen beschäftigen. Auch deshalb fehlt ihm ein theoretisches, der jeweiligen Zeit angepasstes Gerüst. Der ganze Rettungsaktionismus ist ja nicht wirklich attraktiv; auf Menschen, die intellektuell und als Persönlichkeit ein Gewinn wären, kann er sogar abstoßend wirken.

Hildegard Hamm-Brücher war nie Höheres als Staatsministerin im Auswärtigen Amt, bis 1982. Aber die Frau, die den Nationalsozialismus nur knapp überlebte, die Mitarbeiterin von Heuss war, die bei der Wende von Schmidt zu Kohl nicht mitmachte und am 1. Oktober 1982 die Rede ihres Lebens hielt, über die Freiheit des Abgeordneten - diese Frau hat in weiten Teilen der Bürgerschaft das Ansehen einer Bundespräsidentin h. c. Im Jahr 2002 trat sie aus, weil der Vorsitzende Westerwelle antisemitische Rhetorik seines Stellvertreters Möllemann zugelassen hatte.

Dem Parteialltag konnte der Austritt einer 81-jährigen Pensionärin egal sein; die Wirkung in meinungsbildenden Milieus aber war verheerend. CDU und CSU, SPD und Grüne, auch die Linke - sie alle hatten und haben eine Verankerung in akademischen und publizistischen Milieus, ihre Politik steht im Diskurs. Hingegen die Liberalen?

Niemand taumelt ewig

Kurz und ungerecht: 1848 hatten sie Jacob Grimm, in der Paulskirche. 1919: Max Weber und Theodor Wolff. 1971: Karl-Hermann Flach, dessen Freiburger Thesen sowie Ralf Dahrendorf. 2010: den Westerwelle-Aufsatz, aus dem der Begriff "spätrömische Dekadenz", bei den Armen, in Erinnerung geblieben ist. Kann das gut gehen? Es ging sehr lange, irgendwie. Aber niemand taumelt ewig, entweder man kommt irgendwann weg vom Rand, oder der Sturz ist nur eine Frage der Zeit.

Als am Wahlergebnis nicht mehr zu rütteln war, teilte Dirk Niebel mit, der scheidende Entwicklungsminister, was ihm große Sorgen bereite: "dass es in Deutschland mehr Kommunisten als Liberale gibt". Damit beschrieb er das Problem recht präzise; wenn auch ganz anders als gedacht. Eigentlich müssten die Liberalen endlich erklären, warum man sie braucht. Aber selbst im Sturz liefern sie nur Pointen.

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Quelle:
SZ vom 28.09.2013/pje
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